Stasi-Überwachung in Chemiebetrieben Stasi-Überwachung in Chemiebetrieben: Kontrolle bis ins letzte Labor
Merseburg/MZ - Die Stasi wusste dank eigens eingerichteter Dienststellen bestens über die Chemiebetriebe Bescheid. Ökonomischen Nutzen hatte das nach Ansicht eines Wissenschaftlers jedoch nicht.
Wichtige Industriebetriebe, wie die in Leuna und Buna waren in der DDR die mit am dichtesten von der Geheimpolizei kontrollierten Räume. Unter anderem richtete die Staatssicherheit in wichtigen Kombinaten eigene „Objektdienststellen“ ein, die weitreichende Befugnisse hatten.
Mark Emanuel Schiefer arbeitet für das Projekt „Überwachung eines Schlüsselsektors. Über die Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme des MfS auf die DDR-Chemieindustrie“. Der in Chemnitz geborene Politologe und Historiker ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter des BstU. Bei der Veranstaltung wurde auch zum Thema Umweltschutz referiert (die MZ berichtete). Ein weiterer Experte der BstU kam dabei zu dem Schluss, dass die Stasi den Umweltschutz ab Anfang der 80er Jahre als sicherheitspolitischen Gegenstand behandelt hat. Statt gegen die Verursacher von Vergiftungen vorzugehen, ermittelte die Stasi im Geheimen gegen die sich entwickelnde Protestbewegung.
Gute Kontakte in den Westen
Mit der Rolle dieser Dienststellen befasst sich Mark Schiefer, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) in Berlin. „Erich Honecker leitete eine ökonomische Wende unter dem Motto ‚Wachstum durch Wohlfahrt‘ ein. In diesem Zusammenhang rückte die Chemieindustrie in den Vordergrund der DDR-Wirtschaft“, so der 33-jährige Schiefer.
Die Chemie habe die zwei vom Staatsratsvorsitzenden geforderten Voraussetzungen bieten können: Die Produktion von Konsumgütern und weitreichende Kontakte in den Westen durch den Außenhandel. „Eigentlich existierte die gesamtdeutsche Verbundchemie nämlich auch während der deutschen Teilung“, so Schiefer. In der Folge hatte die Stasi großes Interesse an der Überwachung der Chemiebetriebe. So kam es, dass beispielsweise im Chemiekombinat Leuna am Ende der DDR 29 Stasi-Offiziere und 439 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) aktiv waren, was Schiefer durch die Auswertung zahlreicher Akten herausgearbeitet hat. Das führte dazu, dass die Stasi „über jede kaputte Schraube“ Bescheid gewusst habe.
Dabei spielten die Offiziere der Staatssicherheit zahlreiche Rollen: Sie waren staatsanwaltschaftliches Ermittlungsorgan, politische Geheimpolizei, dienten der Plankontrolle oder als ökonomische Berater, hatten sogar Aufgaben als Brandinspekteure und fungierten vor allem in den 80er Jahren als Informationskanal „nach oben“ und als Beschwerdestelle.
„Dies führte dazu, dass die Stasi einen unbegrenzte Hunger an Informationen hatte“, so Schiefer. Doch das führte auch zu Problemen, besonders mit den IM. „Besonders prekär war die Lage 1980 in Buna, wo 30 Prozent der inoffiziellen Mitarbeiter nicht mehr in der Lage waren, die Anforderungen der Stasi zu erfüllen“, so Reinhard Buthmann von der BStU.
Der Mensch als Risikofaktor
Doch welche Aufgaben hatte die Stasi konkret in den Betrieben, warum die allumfassende Überwachung? Immerhin gab es andere Stellen in der DDR, die sich mit der Wirtschaftspolitik auseinandersetzten, zudem fehlte für die umfassende Überwachung jegliche gesetzliche Grundlage, meint Schiefer. Er kommt zu einer klaren Antwort: „Der Mensch wurde als Risikofaktor des kommunistischen Projektes betrachtet, das die gleichmäßige Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft zum Ziel hatte. Jeder Werktätige galt grundsätzlich als unzuverlässig“, sagt Schiefer.
Dieses generelle Misstrauen habe zu dem Paradox geführt, dass die Stasi zwar bestens über den Zustand der Betriebe informiert war, doch alle Probleme auf falsches individuelles Verhalten zurückgeführt habe. Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung habe die Stasi Schiefers Ansicht nach kaum nehmen können. „Die Dienststellen hatten keine finanziellen und logistischen Möglichkeiten, bestimmte Dinge außerplanmäßig zu besorgen“, sagt Schiefer. Bei Zwischenfällen sei die Staatssicherheit an subjektiven Ursachen und nicht an praktikablen Lösungen interessiert gewesen. Aus wissenschaftlicher Sicht kommt Mark Schiefer zu dem Schluss: „Die Stasi hatte in der Chemieindustrie eher eine störende Funktion, die einige Funktionsprobleme noch verstärkt hat.“