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Missbraucht vom Bruder Missbraucht vom Bruder: Sexuelle Gewalt innerhalb der Familie ist ein Tabuthema

16.09.2018, 06:00
Die Referenten Esther Klees und Torsten Kettritz
Die Referenten Esther Klees und Torsten Kettritz Peter Wölk

Merseburg - Wenn es um den Missbrauch von Kindern geht, denke viele an den bösen fremden Mann. Doch häufig kommen die Täter aus der Familie - teils sind es sogar die Geschwister. Eine Tagung der Hochschule Merseburg hat sich nun mit diesem Tabuthema befasst. Robert Briest sprach mit der Sozialpädagogin Esther Klees und dem in der Beratung zu sexualisierter Gewalt tätigen Torsten Kettritz, die zusammen eine Studie zum Thema veröffentlicht haben, über Ausmaß und Folgen des Problems.

Was heißt „sexualisierte Gewalt durch Geschwister“?

Esther Klees: Das sind sexuelle Kontakte, die nicht entwicklungstypisch sind, nichts Spielerisches haben, wie etwa Doktorspiele, sondern es geht um eine Form von Gewalt. Ein Beteiligter erzwingt sexuelle Kontakte, das andere Geschwisterkind erduldet sie unfreiwillig. Das geht vom gemeinsamen Anschauen von Pornografie bis hin zu oralen, analen, vaginalen Vergewaltigungen. Ein Geschwisterkind setzt die teils mit Gewalt, teils mit anderen Strategien durch, um Macht auszuüben.

Wer sind denn die Geschwister, die übergriffig werden?

Torsten Kettris: Jungen und junge Männer stellen mit 80 bis 90 Prozent die größere Gruppe da.

Esther Klees: Wobei sexualisierte Gewalt von Mädchen und Frauen noch stärker tabuisiert ist. Häufig haben die übergriffigen Geschwister selbst zuvor verschiedene Formen der Misshandlung erlebt und wollen durch die Auslebung der sexuellen Gewalt aus der Opferrolle ausbrechen.

Torsten Kettris: Mir hat mal ein Jugendlicher in der Therapie gesagt, er dachte, wenn er es an seinem vierjährigen Bruder verübt, dass er es dann weitergeben kann, die Bilder in seinem Kopf loswird. Das funktioniert natürlich nicht.

Gibt es ein typisches Alter, wann die Übergriffe anfangen?

Torsten Kettris: Es geht schon sehr jung los, durchaus gibt es Anfänge schon im Kindergartenalter. In der therapeutischen Arbeit ist die Hauptgruppe aber zwischen 12 und 16 Jahren alt.

Esther Klees: Bei mir in der Befragung hatten die meisten schon mit unter zehn angefangen.

Wie groß ist das Problem?

Esther Klees: Wir haben keine Zahlen, weil in Deutschland dazu nicht geforscht wird. Es wäre an der Zeit, dies zu ändern.

Torsten Kettris: Uns ist aber aufgefallen, dass von den Kindern und Jugendlichen, die in speziellen Wohngruppen untergebracht sind, 50 Prozent sexuelle Gewalt in ihrer Familie erlebt haben.

Woher kommt die Tabuisierung der Übergriffe von Geschwistern?

Esther Klees: Wenn das eigene Kind von einem fremden Kind missbraucht wird, werden die Eltern den Übergriff öffentlich machen. Bei innerfamiliären Übergriffen hat daran keiner ein Interesse.

Torsten Kettris: Das Umfeld, die Schule, die Jugendhilfe, bagatellisiert oft, sagt: „Das ist Spielen, das ist Ausprobieren. Das sind altersgemäße Entwicklungsschritte.“ In den Therapien stellen wir aber fest, dass es das nicht ist.

Wie erkennen Eltern, Erzieher, Lehrer den Unterschied?

Esther Klees: Man muss erstmal die Beziehung der beiden analysieren und nicht per se banalisieren. Wenn Penetrationen stattfinden, ist die Grenze von Doktorspielen überschritten. Man sollte auch genauer hinschauen, wenn klassische Kriterien für einen Übergriff wie etwa Machtstrukturen, Geheimhaltungsstrategien, strategisches Vorgehen vorhanden sind. Die Fachkräfte in den Kitas, Schulen müssten diese Kriterien kennen, aber das wird in vielen Ausbildungs- und Studiengängen gar nicht vermittelt.

Sollte das verpflichtend sein?

Torsten Kettris: Ja, für alle Pädagogen.

Esther Klees: Sexualisierte Gewalt begegnet uns nicht nur in der Familie, sondern überall. Wir hatten große Debatten über sexualisierte Gewalt in Schulen, in der katholischen Kirche, jetzt sind es die Springreiter. Da wäre es das Mindeste, dass die Fachkräfte was darüber erfahren.

Torsten Kettris: Das Ausmaß sexualisierter Gewalt ist größer, als öffentlich wahrgenommen. Es wird über einzelne Fälle gesprochen und über sexualisierte Gewalt durch Geschwister gar nicht.

Hilft es den Geschwistern in der Opferrolle, wenn darüber gesprochen wird?

Torsten Kettris: Von denen, die bei uns in der Therapie sind, waren etwa 50 Prozent selbst Opfer sexueller Gewalt, 80 Prozent haben körperliche und 90 Prozent psychische Gewalt erfahren. Nur ein geringer Anteil von ihnen hatte eine Therapie als Opfer erhalten. Es muss aber gesagt werden: Nicht alle Betroffenen werden zum Täter und eigene Betroffenheit rechtfertigt nicht, selbst zum Täter zu werden. Dennoch brauchen letztlich alle Beteiligten Hilfe: die Opfer, die übergriffigen Geschwister und auch die Eltern. Die sind natürlich überfordert. In derselben Familie Täter und Opfer zu haben, ist hochgradig emotional belastend.

Gibt es Hilfsangebote?

Esther Klees: Nein, es gibt in Deutschland bisher keine flächendeckenden Angebote.

Torsten Kettris: Für Betroffene in Sachsen-Anhalt ist südlich von Halle Niemandsland. Für die übergriffigen Jugendlichen finden sie oberhalb der Linie Harz-Dessau Angebote, darunter nicht.

Viele Taten bleiben unentdeckt, Täter also auch ohne Behandlung. Verwächst sich das Problem mit der Zeit?

Esther Klees: Nein, es chronofiziert sich eher. Viele erwachsenen Sexualstraftätern haben schon als Kind angefangen.

Torsten Kettris: Sexualisierte Gewalt unter Geschwistern ist etwas, das nicht nur einmal passiert, sondern bestimmte Rituale, Abläufe hat. Wenn ein 16-Jähriger einmal in der Woche seine achtjährige Schwester missbraucht, weil er auf sie aufpassen soll, während die Eltern einkaufen, dann sind das 52 Übergriffe im Jahr. Die Taten dauern lange. Bei unserer Studie kam heraus: durchschnittlich zwei Jahre.

Esther Klees: Bei uns in der Untersuchung war es bei über der Hälfte über vier Jahre. Sie haben eine enorme Verfügbarkeit, weil sie die Geschwister so gut kontrollieren können.

(mz)