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Merseburger Orgeltage Ein Abend der Kontraste

Wiener Moderne und atmosphärische Archaik – die Merseburger Orgeltage widmen sich österreichischen Komponisten. Zum Beispiel: Anton Bruckner und Franz Schmidt

Von Roland H. Dippel 12.09.2024, 12:34
Sie ist jedes Jahr der Star: die Ladegast-Orgel im Merseburger Dom.
Sie ist jedes Jahr der Star: die Ladegast-Orgel im Merseburger Dom. (Foto: dpa/Woitas)

Merseburg/MZ - Sogar für die Salzburger Festspiele mit mehr als 200 Veranstaltungen wäre dieser Hommage-Rundumschlag einige Konfektionsnummern zu groß: Michael Schönheit, künstlerischer Leiter, und die Vereinigten Domstifter setzten für die 54. Merseburger Orgeltage auf das Motto „Musikland Österreich – von der Wiener Klassik bis zur Wiener Schule der Moderne“. Dieses weite Feld lässt sich noch bis zum 15. September sogar bei bis zu fünf Veranstaltungen am Tag allenfalls flüchtig und bruchstückhaft abschreiten. Hommagen an Arnold Schönberg und Franz Schmidt (beide 150. Geburtstag) sowie an Anton Bruckner (200. Geburtstag) stehen auf dem Programm.

Missa Solemnis in Merseburg

An seinem zweiten Wochenende mündet eines der wesentlichen deutschen Orgelfestivals in geläufigere Repertoirebahnen. Schönheit dirigiert am 15. September Beethovens Missa solemnis mit der Merseburger Hofmusik, dem Kammerchor der Schlosskapelle Saalfeld, dem Collegium Vocale Leipzig und namhaften Solisten. Das Familienkonzert um 14 Uhr im Kapitelhof ist mit der Kurzfassung von Mozarts im Nahen Osten spielender Oper „Die Entführung aus dem Serail“ ein Plädoyer für Toleranz und definitiv orgelfern.

Spannend wird es in der großen Musiknacht am 14. September mit Domkantor Stefan Mücksch, Denny Wilke an der Orgel und der Staatskapelle Halle. Vor Anton Bruckners Messe in f-Moll erklingen Orchesterstücke aus Franz Schmidts Oper „Notre Dame“, darunter das erotisierend aufrauschende Porträt der „Zigeunerin“ Esmeralda.

Abendkonzert im Dom

Das große Abendkonzert im Dom, welches am Dienstag den Orgelfest-Fokus „Bruckner auf der Orgel“ und „Franz Schmidt“ bündelte, enthielt alles, was nach aktuellen Studien für die Zukunftsfähigkeit von Klassikfestivals wichtig ist: keine zig-fache Wiederholung von Bekanntem, dafür exklusive Spezialitäten. Bruckner erklang im Dom nicht mit philharmonischer Sättigung, sondern in verstehbarer Nähe zum Arbeitsspektrum des Sinfonikers, Linzer Domorganisten und Orgelvirtuosen. Markus und Pascal Kaufmann spielten Anton Bruckners fünfte Sinfonie b-Dur in ihrer eigenen Bearbeitung „zu vier Händen und Füßen“. Die beiden im Solo und Duo am Klavier, am Cembalo und an der Orgel souveränen Männer aus Chemnitz gehören zur blutjungen Generation der Bruckner-Interpreten. Sie wissen, dass Bruckner bis vor kurzem viel zu leichtfertig auf seine Wagner-Verehrung eingeengt wurde. Sie zeigen mit jedem Takt auch, dass hinter Bruckners Fassade des schlichten Landmenschen eine hellwache Sensibilität arbeitete. Die Teilstücke, Motive und Akzentwechsel der Partitur stehen manchmal sogar schroff nebeneinander. Das Gerippe des Tonsatzes, auch die bei Bruckner sonst vom Orchesterprunk überfluteten Kanten und Konturen treten hervor. Die Brüder Kaufmann brauchen im Merseburger Dom fast zehn Minuten weniger als die Orchesterversion. Auch Formbewusstsein und Rhythmus der Komposition waren viel deutlicher hörbar als mit Orchester.

Einer der schönsten Orte: Domgarten

Nach Einbruch der Dunkelheit im Domgarten, einem der schönsten Konzertpausenorte Europas, nahmen Musiker und Publikum im zweiten Teil auf dem Altar Platz. Ein solcher Positionswechsel schafft authentische Festival-Exklusivität. Nach dem Duo auf der Orgelempore traten die Pianisten Paulo Almeida und Michael Schöch an den Flügel. Sie spielten die 1899 in Wien zu schnellem Erfolg gekommene erste Sinfonie e-Dur des als Cellist im Hofopernorchester wirkenden Franz Schmidt. Was für ein Kontrast! Keineswegs offenbart die von Schmidt erstellte Einrichtung für vier Hände die Strukturen seines Werks so deutlich wie die vorab erklungene Bruckner-Adaption. Auch am Flügel ist Schmidts Komposition eine Offenbarung von kreativem Überschwang mit zahlreichen Reizmomenten. Von Rückgriffen Schmidts auf barocke Formen musste man wissen, um sie zu hören. Weithin wirkt Schmidts sinfonisches Debüt wie ein über die harmonischen Stränge schlagendes Opus von Brahms. Almeida und Schöch haben keine Skrupel vor diesem üppigen Klanggemälde.

Richard Strauss sollte in seinen letzten Jahren nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit ähnlichen Akkordkombinationen vor der harten Wirklichkeit fliehen. Da war der heftig mit den Nationalsozialisten sympathisierende Schmidt bereits tot. Die mit großem Applaus bedachte Gegenüberstellung von Orgel und Flügel, Bruckner und Schmidt war programmatisch wie künstlerisch eine hochspannende Aktion.