Flucht vor dem Krieg Flucht vor dem Krieg: Wie ein syrischer Flüchtling in Sachsen-Anhalt sein Glück fand

Merseburg - Am Tag, als sie die Rucksäcke klauten, schien alles vorüber zu sein. Eissa Jouria hat den Moment nicht vergessen, als seine kleine, zusammengewürfelte Gruppe von Reisegefährten zu dem Baum zurückkehrte, unter dem sie ihre größeren Gepäckstücke zurückgelassen hatten.
„Alles war weg, alles“, sagt der 26-Jährige, dem damals, vor vier Jahren, für einen Augenblick der Boden unter den Füßen wegrutschte. Wie soll man weiterkommen ohne Geld? Ohne Papiere? Ohne Kleidung?
Jouria, ein temperamentvoller Mann mit großen braunen Augen, sitzt in einem Besprechungsraum des BMW-Autohauses Weigl in Merseburg und erzählt seine Geschichte mit fliegenden Händen.
Der Niemand mit Nichts als Gepäck, dessen Flucht vor dem syrischen Geheimdienst damals in Ungarn zu scheitern drohte, ist heute nicht nur ein Kfz-Mechatroniker-Lehrling, von dem Firmenchef Alexander Weigl hofft, „dass er uns erhalten bleibt“. Nein, Eissa Jouria, der sagt, „Eissa heißt Jesus“, hat in Halle auch die Liebe seines Lebens gefunden und geheiratet.
Flucht vor dem Bürgerkrieg
Ein langer Weg in eine Zukunft, von der der Junge aus Damaskus in den ersten Jahren nach der Flucht seiner Familie in die Türkei nicht einmal geträumt hatte. „Ehe es losging“, sagt er, wobei das unbestimmte „Es“ den Bürgerkrieg in Syrien meint, „habe ich studiert und nebenbei einen eigenen kleinen Kosmetikladen geführt.“
Die Jourias gehören zur syrischen Mittelschicht, der Vater ist Friseur und arbeitete in den Emiraten - zum Glück, denn so kann die Familie entkommen, als „Es“ losgeht. Es ist knapp, sehr knapp. „Einen Tag nachdem ich weg war, ist die Geheimpolizei gekommen, um mich abzuholen“, sagt Eissa Jouria. Weshalb? Weswegen? Er weiß es bis heute nicht. Aber, ist er sicher, irgendetwas hätten sie gefunden, um ihn wegzusperren.
Das Leben in der Türkei aber kommt Eissa Jouria vor wie ein langsamer Tod in einem Gefängnis, das nur wenig komfortabler ist. Daheim in Damaskus hatte er Business Administrations studiert, hier musste er nun froh sein, in einem Café kellnern zu dürfen.
„Deine ganze Lebensperspektive ist auf einmal, dich vom Unterkellner zum Oberkellner hocharbeiten zu dürfen, vielleicht“, sagt er. Als ein Cousin ihm beichtete, so sehr die Nase voll zu haben vom Leben als geduldeter Gast ohne Rechte, dass er versuchen wolle, über die Balkanroute bis nach Deutschland zu laufen, musste Jouria nicht lange überlegen. „Ich habe meinen Vater gefragt und er hat gesagt, Junge, es ist dein Leben.“
Hilfe fand Eissa Jouria nach seiner Ankunft in Halle beim Projekt MiiDU - eine Abkürzung für „Migrantinnen in dualer Ausbildung“. Seit September 2015 bereitet die Initiative des Landesnetzwerkes Migrantenorganisationen und der Deutschen Angestellten-Akademie in Halle, Magdeburg, Bernburg und Dessau ausbildungsinteressierte Flüchtlinge im Alter bis 35 Jahren mit guter Bleibeperspektive und Sprachniveau ab B1 auf eine duale Ausbildung vor. MiiDu unterstützt sie bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz und hilft ihnen während der Ausbildung. Bisher haben mehr als 300 Migranten an dem Projekt teilgenommen, viele fanden dank der individuellen Beratung einen Ausbildungsplatz. Parallel zu den Teilnehmern berät MiiDu auch die Unternehmen. Das Projekt wird durch den Bund und den EU-Sozialfonds gefördert.
››Kontakt zum Projekt www.bit.ly/miidu
Es ist Mitte Juni 2015, als Eissa Jouria mit Dutzenden anderen auf einem Lkw sitzt, der Richtung Izmir wackelt. „Dann stiegen wir in ein Gummiboot und fuhren aufs Meer“, erzählt er, „bis ein Schiff der Küstenwache kam, das uns erst rammte, ehe es einer der Soldaten mit einem Messer aufschlitzte.“ Der überfüllte Kahn schaffte es gerade so bis an die griechische Küste, „wir drückten unsere Hände auf das Loch beteten“, beschreibt Jouria.
Die kleine Gruppe, die sich um ihn und seinen Cousin gebildet hat, folgt dem Fluchtfahrplan mit Tipps, den die Schlepper ihnen gegeben haben. Von Athen nach Thessaloniki, dann Stunden um Stunden Marsch bis an die Grenze zu Mazedonien.
„Für 50 Euro ließ uns ein Sicherheitsbeamter auf einen Güterzug Richtung Serbien springen.“ Dort an der Grenze allerdings wird Jourias Gruppe erwischt. „Die Grenzer sagten, ihr müsst zurück nach Griechenland.“ Um drei Uhr früh kehren die Ertappten um. Kurz nach vier lassen sie die Grenze ein paar Meter weiter unbehelligt hinter sich.
„Es war immer nur Stress“, erzählt Eissa Jouria, „wir haben kaum geschlafen und alles Geld für Taxis ausgegeben.“ Als dann alle Rucksäcke gestohlen werden, ausgerechnet in Ungarn, einem Land, von dem die Flüchtenden wissen, dass sie es schnell hinter sich lassen müssen, ist die Verzweiflung grenzenlos. „Aber ich dachte immer an die Türkei und dass es dort eigentlich noch viel schlimmer war.“
Reise ins Ungewisse
Eissa Jouria hat alle Daten noch genau im Kopf, die Reiseroute, die Straßen, die Züge, Fähren, Autos, Busse, Taxen, die Namen der Hotels, von denen die Schlepper ihnen gesteckt hatten, dass sie sicher vor der Polizei seien, weil die dort nie nachschaue. Und die Bilder aus diesen Etablissements: „Die Decken waren jahrelang nicht gewaschen und überall flitzte Viehzeug herum.“ Nach 14 Tagen Wanderung erreicht seine Gruppe die deutsche Grenze. „Und da war gleich eine junge Frau, die hat uns Wasser gegeben, und ein Taxifahrer, der hat uns für das Geld mitgenommen, was wir noch hatten.“
Eissa Jouria landete in Gießen, in einem Zelt in einem ehemaligen Armeelager. Irgendwann hieß es, er müsse nach Halberstadt, weg von seinen Reisegefährten. Aus Halberstadt ging es weiter Richtung Hettstedt. All die Städtenamen hatte Eissa Jouria vorher noch nie gehört. „Aber ich bin gekommen für ein neues Leben“, sagt er, „warum also nicht auch neue Städte?“
Sein Verfahren in Halberstadt ist schnell abgewickelt, schon nach drei Monaten bekam er seinen Aufenthaltstitel. „Verwandte von mir wollten, dass ich zu ihnen nach Frankfurt komme“, erzählt er, „aber ich wollte mein neues Leben richtig neu anfangen, also habe ich gesagt, ich gehe nach Halle.“
Bis dahin dauerte es noch Monate. „Diese deutsche Bürokratie, dieses Warten“, erinnert sich Jouria an seine Zeit in Hettstedt, „ich habe vier Monate nur geschlafen, gegessen und bin durch Hettstedt gelaufen - und Hettstedt ist sehr klein.“ Nicht die Behörden, sondern ein zufälliger Bekannter aus Marokko, der schon seit 2005 hier lebt, habe ihm in dieser Zeit geholfen. „Er hat mit mir eine Wohnung gesucht und Möbel gekauft und auch mal gesagt, nein, Eissa, das brauchst du jetzt wirklich nicht.“
Die Chance des Lebens nutzen
Es ist ein Satz eines Freundes seines Vaters, der den damals gerade 22-Jährigen antreibt. „Es gibt im Leben schwere Dinge und leichte, hat der mir mitgegeben“, erzählt Eissa Jouria, „aber es gibt nichts, was unmöglich ist.“ Man müsse nur wollen und sich anstrengen. Eissa Jouria ist ein zielstrebiger junger Mann, der sagt, er wolle die Chance nutzen, die er in Deutschland erhalten habe.
Als sie ihm damals beim Jobcenter knapp mitteilten, dass er nun wohl erstmal einen Sprachlehrgang machen müsse, aber keinen Hinweis darauf geben, wo und wie, stiefelte er selber los. „Ich bin zu einer Sprachschule hin und habe einfach gesagt, ich will Deutsch lernen“, erzählt Jouria, der zwei Jahre später Deutsch auf C1-Niveau spricht. „Darüber ist bloß noch Muttersprachler-Deutsch“, sagt er stolz.
Alles ist besser als das, was er in der Türkei erlebt hat. „Nie, nie, nie mehr will ich das“, sagt er. Schließlich, so Jouria, habe er einen Plan für sein Leben, als Kind schon ausgedacht. „Ich wollte ja Pilot werden, wie alle, aber später ist mir klargeworden, dass du als Pilot nie dein eigener Chef sein wirst, außer, du hast selbst eine Fluglinie.“ Nicht sehr wahrscheinlich, dass das gelingt, hat er sich realistischerweise eingestanden.
Warum also nicht lieber was mit Autos machen? „Autofahren ist mein Hobby, Deutschland ist ein Autoland, und eine Autowerkstatt hat man bestimmt eher als eine eigene Fluggesellschaft.“ Eissa Jouria lächelt, als er das sagt. Er hat lange und ernsthaft darüber nachgedacht und sich dann mit Hilfe des MiiDu-Projektes des Landesnetzwerkes Migrantenorganisationen (siehe „Brücke zur Integration“) beim BMW-Autohaus Weigl in Merseburg beworben.
Dessen Chef Alexander Weigl hatte schon vor Jahren begonnen, nicht nur deutsche Jugendliche als Azubis einzustellen - und gute Erfahrungen damit gemacht. „Unsere portugiesischen Jungs waren eifrig und in vielen Dingen weiter als mancher von unseren deutschen Lehrlingen“, sagt der Firmenchef, der den demografischen Wandel in den letzten Jahren bei den Bewerberzahlen um die Lehrstellen im Unternehmen direkt beobachten konnte.
„Nur gute Erfahrungen“ hätten sie mit nicht-deutschen Jugendlichen gemacht, sagt Weigl. „Mir kommt es oft vor, als hätten die deutlich mehr Antrieb, weil sie viel mehr zu gewinnen haben.“ Weigls Frau Anja unterhielt schon länger Kontakte zu MiiDu, und nachdem Eissa Jouria den Eignungstest bestanden hatte, war klar, „dass das Unternehmen auch wirtschaftlich profitieren wird, wenn wir ihn als Kfz-Mechatroniker ausbilden.“
Alexander Weigl, der jeden Gedanken zurückweist, er und seine Frau handelten nur als „Gutmenschen“, indem sie Flüchtlinge als Lehrlinge einstellen, hat sich nicht verrechnet. „Eissa hat so super eingeschlagen“, sagt Anja Weigl, „dass wir jetzt noch einen Flüchtling als Lehrling zu uns geholt haben.“
Integration, die neue Heimat schafft. Eissa Jouria hat in Halle inzwischen die große Liebe gefunden, eine Syrerin, die er in seiner Freundesclique aus Deutschen, Syrern und Türken kennenlernte, ehe es irgendwann „bumm“ machte. „Mittlerweile sind wir verheiratet, und wir bekommen jetzt ein Kind“, freut er sich. Den Plan mit der eigenen Werkstatt hat der 26-Jährige immer noch im Kopf, aber er ist im Moment ein bisschen nach hinten gerutscht. Erstmal die Lehre fertigmachen, später vielleicht doch noch studieren. Und irgendwann später zurück nach Hause, wenn endlich wieder Frieden in Syrien ist. „Ja, das ist doch klar“, sagt Eissa Jouria, „man will doch bei seiner ganzen Familie sein.“ (mz)