Radegast Radegast: Gaststätte "Fleischer" war lange ein Geheimtipp
Radegast/MZ - „Die Gaststätte Fleischer in Radegast, (...) hat über 100 Jahre auf dem Buckel. Aber man sieht es ihr nicht an. Sie ist den heutigen Ansprüchen an gemütliche Gastlichkeit immer wieder angepasst worden...“, schreibt „Der Morgen“, Zentralorgan der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands, im Februar 1976. Und das ist nicht der einzige Zeitungsartikel, den Fritz Modzanowski von damals aufbewahrt hat. Die Gazetten überschlagen sich mit Lobeshymnen für die Gaststätte in Radegast, die Inge Modzanowski, geborene Fleischer, und ihr Mann bis 1988 gemeinsam geführt haben. Beim Wettbewerb „Kollege kommt gleich“ von Radio DDR sind die Modzanowskis ebenso geehrt worden wie bei zahlreichen anderen Gelegenheiten.
Geheimtipp zu DDR-Zeiten
Fritz Modzanowski, 1921 in Radegast geboren, wohnt heute noch immer in dem Haus in der Dessauer Straße, in dem sich einst die so beliebte Gaststätte befand, die zu DDR-Zeiten als Geheimtipp galt. Lkw- Fahrer, die auf der Autobahn unterwegs waren, machten gern einen Umweg über Radegast. DDR-Prominenz wie der Sänger Roland Neudert, der Conférencier Heinz Quermann oder der Fernsehunterhalter Hans-Georg Ponesky, der mit seiner Überraschungsshow „Mit dem Herzen dabei“ bekanntwurde, gingen bei den Modzanowskis ein und aus. „Die Gaststätte Fleischer genießt über den Bezirk Halle hinaus einen guten Ruf“, urteilte auch das Ministerium für Handel und Versorgung in Berlin.
Oft hatten die Modzanowskis aber auch ausländische Gäste zu bewirten, zum Beispiel Chinesen und Inder, die geschäftliche Beziehungen mit den Betrieben Vorwärmer- und Kesselbau in Köthen oder Orbitaplast in Weißandt- Gölzau unterhielten und hier in Radegast niveauvoll beköstigt werden sollten. „Denn bei uns gab es alles“, sagt der heute 92-Jährige.
Chinesen tranken nur Wasser
Für besondere Anlässe konnten damals vor allem die Interhotels der DDR auf ein Sonderkontingent zurückgreifen. In diesem Depot durfte auch Fritz Modzanowski manchmal einkaufen, wenn er ausländische Gäste zu bewirten hatte. Da gab es unter anderem Westweine und Cognac. Wenn er Glück hatte und die Chinesen nur Wasser tranken, konnte Modzanowski sogar mal was für seine inländischen Gäste abzweigen.
Es gehörte aber auch unternehmerisches Geschick dazu, um den Gästen in der Mangelwirtschaft etwas außer der Reihe anzubieten. „Ich bin frühmorgens zeitig aufgestanden und habe Spargel von Susigke geholt, der eigentlich den HO- und Konsum-Gaststätten vorbehalten war“, erzählt der Radegaster. Das Fleisch besorgte er sich privat aus Köthen.
150 bis 250 Essen haben die Modzanowkis und ihre Mitarbeiter damals pro Tag zubereitet. Versorgt wurden von Radegast aus unter anderem auch die Belegschaften der PGH Friseur, der Asphaltfirma in Löberitz oder der Firma Tapeten-Kunze in Weißandt-Gölzau. „Meine Frau war eine begnadete Köchin“, lobt Fritz Modzanowski. Zum 100-jährigen Bestehen der Gaststätte „Fleischer“, die seit den 70er Jahren als Kommissionsgaststätte der HO geführt wurde, gab es sogar Glückwünsche vom Staatsrat der DDR.
Doch wie hat alles angefangen?
Am 28. April 1867 erteilte die Herzoglich Anhaltische Regierung dem Gründer der Radegaster Brauerei, Louis Fleischer, die Erlaubnis zum Halten einer Bierstube. Zu den damals üblichen Bedingungen und Einschränkungen gehörte auch der Passus, sich die jederzeitige Zurücknahme der Konzession ohne Entschädigung gefallen zu lassen, wie der betreffenden Urkunde zu entnehmen ist.
Das ist aber nie passiert. Allerdings gab es später andere Einschränkungen durch das DDR-System. So im Jahr 1958, als Betriebe mit über zehn Mitarbeitern zunehmend verstaatlicht wurden. „Wir haben damals unsere Maschinen und Lkw verkauft und die Brauerei nicht weiter betrieben“, erzählt Fritz Modzanowski. In der Schule habe man den Kindern zu jener Zeit beigebracht, dass so wie die Modzanowskis Ausbeuter aussehen. Schließlich wurde nur noch die Gaststätte weiter geführt und eine Zeit lang noch Mineralwasser und Limo in Radegast produziert.
Mehr und mehr gingen die Modzanowskis dazu über, ihr Speisenangebot auszubauen. Wenn er heute daran denkt, dass das teuerste Gericht, Rindslende, damals 4,20 Mark kostete und ein Schnitzel für 2,40 Mark zu haben war, muss der Radegaster mit Blick auf heutige Preise schmunzeln. „Da haben wir immer noch was dran verdient.“
Räume stehen leer
Auf einem der Fotos, die „Die Handelswoche“ in den 70er Jahren abdruckte, ist eine Musikbox amerikanischer Herstellung zu sehen. Die hat Fritz Modzanowski bei einem seiner Messebesuche aufgetrieben und bis zum Schluss in Ehren gehalten. Als er den Beruf des Gastwirts mit 67 Jahren an den Nagel hängte, war „Fleischers Gaststätte“ noch eine Weile an einen Nachfolger verpachtet. Doch der habe nicht zu seiner Zufriedenheit gewirtschaftet, sagt Modzanowski. Deshalb hat er nach der Wende an die Firma „Schlecker“ verpachtet, die im vergangenen Jahr Pleite ging. Heute stehen die Räume leer.
Ein kleiner Rückblick: Die Eltern von Fritz Modzanowski, Wilhelm und Auguste, kamen 1920 aus der Provinz Posen nach Radegast, wo schon eine Tante lebte. Sie wohnten zunächst in der Walter-Rathenau Straße, wo Fritz Modzanowski auch geboren ist. Der Vater betrieb in den 20er Jahren einen ambulanten Textilhandel und fuhr mit dem Motorrad über Land. Später eröffnete er noch eine Tankstelle und 1928 ein kleines Textilgeschäft in der Rathenau-Straße. Fritz Modzanowski hat eigentlich Bäcker und Konditor gelernt, bei der Firma Rotte in der Friedrich-Ebert-Straße in Köthen. Später ging er zur Handelsmarine und fuhr unter anderem Häfen in China, Afrika und Mexiko an. Im Krieg wurde er zur Kriegsmarine eingezogen.
Russische Gefangenschaft
In Lübeck lernte er seine damalige Verlobte kennen, mit der er in jungen Jahren nach Amerika auswandern wollte. Doch bei einer kurzen Rückkehr nach Radegast zu den Eltern geriet er in russische Gefangenschaft. So kam es, dass Fritz Modzanowski seine Verlobte, die inzwischen in Amerika lebte, aus den Augen verlor. Nach dem Krieg stieg er zunächst in das Geschäft der Eltern ein.
Modzanowski wurde Vorsitzender des Sportvereins Schwarz-Gelb und lernte dadurch auch seine Frau kennen. Denn deren Familie wohnte gegenüber dem Sportplatz und betrieb die Gaststätte „Fleischer“, die nach der Hochzeit für Jahrzehnte zu seinem Lebensmittelpunkt werden sollte. Eine schöne Zeit, an die er sich auch im hohen Alter noch gern erinnert.