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Erinnerung Erinnerung: Gern "auf der Villa" gespielt

Von Ute hartling-Lieblang 27.08.2013, 20:53
Hannelore Scheibner zog als Kind in das Haus des Großvaters Otto Thiele.
Hannelore Scheibner zog als Kind in das Haus des Großvaters Otto Thiele. Foto/Repros: rebsch Lizenz

Köthen/MZ - Als Hannelore Scheibner im Alter von fünf Jahren mit ihren Eltern von Stettin nach Köthen zog, stand die Friedrich-Ebert-Straße noch voller „schöner schattenspendender Bäume“. Hier betrieben die Großeltern damals eine Weinstube und ein Delikatessengeschäft. Das Grundstück, früher Heinrichstraße 31, erwarb der Urgroßvater von Hannelore Scheibner, Otto Thiele, 1899. Heute befindet sich in dem Haus die Pension „Zum Rüdesheimer“.

„Wir hatten eine unbeschwerte Kindheit“, sagt Hannelore Scheibner, Jahrgang 1941. Obwohl es die Arbeitslosigkeit war, die die Eltern 1946 bewog, mit ihr und dem etwas älteren Bruder nach Köthen umzuziehen. Hier bekam Hannelore Scheibner später noch einen jüngren Bruder. Die Eltern ließen den Kindern allerlei Freiheiten. Gespielt wurde auf der Straße mit allen Kindern aus der Gegend und überall dort, wo das Abenteuer lockte. Zum Beispiel „auf der Villa“, wie die zerbombte, einst so prachtvolle Friedheimsche Villa nahe der Eisenbahnunterführung, von den Kindern genannt wurde. „Das war eigentlich nur ein großer Schuttberg“, erklärt die Köthenerin, warum man „auf“ und nicht „an “ der Villa sagte. Dass das Spielen hier und auf dem angrenzenden Junkers Fabrikgelände nicht ungefährlich war, darüber habe man sich damals keine Gedanken gemacht. Auch der Heinrichsplatz und der Ziethebusch mit ihren gepflegten Anlagen waren beliebte Spielplätze.

„Hunger hatten wir als Kinder eigentlich immer“, erinnert sich die Köthenerin. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich jeder Wurstzipfel, den man bei Fleischermeister Boinski in der Friedrich-Ebert-Straße zugesteckt bekam, jede noch so kleine Leckerei im Süßwarengeschäft von Frau Weber in der Nummer 43 oder das Brot, das die Russen manchmal vom Lastwagen fallen ließen, wenn sie wieder beim Bäcker Hasselberg Nachschub geholt hatten, tief im Gedächtnis der Kinder einprägte. Letzteres war wie ein Lotto-Gewinn, gibt Hannelore Scheibner die Erinnerungen ihres älteren Bruders wieder.

Voller Neugier wurden von den Kindern der Friedrich-Ebert-Straße auch die Waggons beobachtet, die regelmäßig auf das Abstellgleis in der Parkstraße geschoben wurden. Durch eine Art Fenster konnte man von oben den Inhalt erspähen. Welch ein Glück, wenn dort zum Beispiel Haferflocken zu holen waren, die der Bruder dann von oben herunter warf. „Wir haben tagelang davon gegessen“, erinnert sich die Köthenerin.

Besonders stolz sei man als Kind gewesen, wenn man vom Bäcker mal nicht die üblichen schwarzen Brötchen nach Haus trug, sondern helle Weizenbrötchen. Einmal habe ihr Vater einen Sack Weizenmehl gegen eine Schnapsreserve aus der Gaststube getauscht, so sei man an die begehrten Backwaren gelangt.

Erinnern kann sich Hannelore Scheibner auch noch an den einen oder anderen Hasenbraten, den es zu Hause gab. Die Hasen stammten von russischen Soldaten, die ab und an im „Rüdesheimer“ einkehrten und die Langohren selbst erlegt hatten.

Tauschgeschäfte aller Art, die waren im Köthen der Nachkriegsjahre, in denen es alles nur auf Marken gab, an der Tagesordnung, schildert die 72-Jährige. So kann sie sich zum Beispiel erinnern, wie der Bruder einmal eine Aktentasche voll Hochprozentigem in das Spirituosen-Geschäft von Herrn Litwin in der Augustenstraße tragen sollte und damit auf der Treppe ausgerutscht ist, was natürlich zu Hause für Verdruss sorgte.

Süßigkeiten waren in der Kindheit von Hannelore Scheibner eine große Seltenheit. Sie lockten zum Beispiel in großen Gläsern im bereits erwähnten Süßwarengeschäft von Frau Weber, einer „kleinen zierlichen Geschäftsfrau, die ihre Hände stets auf dem Rücken faltete. Doch die kleinen kissenförmigen Bonbons, die es dort gab, stellte das Eis von Benedetto, der sein Geschäft nahe dem Bärplatz (später Café Rosi) hatte, noch in den Schatten. Zehn Pfennige kostete die Kugel. Und wenn sie mal 80 Pfennige in der Tasche hatte, wurde alles in Eis umgesetzt. Verdient hat sich Hannelore Scheibner ihr Taschengeld mit Botengängen zur „kleinen Post“, an der Bahnhofskreuzung. Dort hat sie manchmal mit dem Bruder Pakete für den Onkel abgeholt, die, je nach Größe, mit dem Handwagen transportiert wurden, der heute noch immer auf dem Hof der Pension „Zum Rüdesheimer“ steht. - Zur unbeschwerten Kindheit gehören für die Köthenerin auch die Besuche im Köthener Stadtbad mit seinen einzigartigen Umkleidekabinen, die im oberen Teil den Charakter eines Laubengangs hatten. Manchmal wurden die Kinder dort kurzerhand aus dem Wasser gepfiffen, wenn die russischen Soldaten in ihren blauen Unterhosen baden wollten und so manchen „Bauchklatscher“ vom Sprungturm landeten. Einer kleinen Weltreise glich hingegen ein Ausflug zum Köthener Güterseebad mit dem einzigen Fahrrad der Familie, das Hannelore Scheibner mit den beiden Brüdern teilen musste.

Es sind aber auch die vielen Geschäfte in der Friedrich-Ebert-Straße, die ihr rückblickend einfallen, manche sogar noch mit Hausnummer. Da waren unter anderem die Seifenfabrik Fitzau in der Nummer 49 oder die Friseure Gärtner und Becker. Bei letzterem wurde der Bruder gleich mal auf den Tresen gesetzt, um die Locken abzuschneiden. Oder das Blumengeschäft Lehmann, wo man samstags nach der Schule manchmal ein paar Blumen-Reste ergattern konnte. Und es gab den Hausarzt Dr. Theobald, der die Lebensgeschichte aller seiner Patienten kannte, weil die oft vom Kinder- bis ins Erwachsenenalter von ihm betreut wurden. In der nahe gelegenen Georgstraße gab es die elektrische Mangel von Frau Zippler. Zur Ebert-Straße gehörte aber auch der Rennfahrer Theo Fitzau, der dort oft „herunter knatterte“, wenn er für einen Wettkampf trainierte.

Eine Müllabfuhr kennt Hannelore Scheibner aus ihrer Kindheit nicht. „Da gab es auf dem Hof noch eine offene Asche“, sagt sie, die ab und an mit einem Pferdefuhrwerk abgeholt wurde. Das Pferd habe immer Angst vor den kleinen, glatten Fliesen im Hausflur gehabt, schildert die Köthenerin, daher habe der Besitzer mit der Peitsche nachgeholfen. Ausgerutscht sei das Tier aber nicht. Im Gegensatz zu einem Brauereipferd, das sich vor dem Rüdesheimer einmal ein Bein gebrochen habe und danach sofort notgeschlachtet werden musste.

Heute gibt es in der Pension „Zum Rüdesheimer“, die Hannelore Scheibner seit der Wende betreibt, keinen Ausschank mehr. Doch sie kennt noch die Stelle im Flur, wo früher die Fässer in den Bierkeller gerollt wurden. An die alten Zeiten erinnern noch zahlreiche Fotografien in der Gaststube, in der man noch heute ein kleinwenig vom Flair vergangener Jahre schnuppern kann.

Hannelore Scheibner zog als Kind in das Haus des Großvaters Otto Thiele.
Hannelore Scheibner zog als Kind in das Haus des Großvaters Otto Thiele.
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