Junge Menschen sensibilisieren Beim Landkreis Anhalt-Bitterfeld gibt es seit kurzem einen Anzug zur Alterssimulation
Wie fühlt es sich an, wenn alltägliche Dinge zum Kampf werden? MZ-Volontärin Jessica Vogts probiert es aus.

Köthen - Mühsam gestaltet sich das Treppensteigen. Nicht einmal zehn Stufen sind es. Mit einer Drehbewegung setzte ich meinen Fuß auf eine Stufe. Zu schwer und müde sind die Beine. Schritt für Schritt. Das Geländer brauche ich zur Sicherheit, sonst würde ich eine Stufe übersehen und hinfallen. Zwischendurch brauche ich eine kurze Pause.
Treppensteigen war bislang nie ein Problem für mich, höchstens wenn ich Muskelkater vom Training hatte. Am eigenem Leib erfuhr ich nun, wie es sich anfühlen mag, körperliche Beeinträchtigungen zu haben. Seit kurzem gibt es dafür einen Anzug zur Simulation von alters- und behinderungsbedingten Einschränkungen vom Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Entstanden ist die Idee im Projekt Teilhabemanagement.
15 Kilogramm wiegt der komplette Anzug - von Kopf bis Fuß
„Wir wollten damit sensibilisieren“, erklärt Mitorganisatorin Franziska Siemke. Bislang gab es bereits in vielen Regionen, auch in Köthen, die „begleiteten Touren für Menschen mit Behinderungen“. „Mit dem Anzug wollten wir das alles aber erlebbar, sichtbar machen“, so Siemke.
In einem Koffer verpackt, befand sich der Anzug. Schon beim Anheben des Koffers war klar, dass es sich hierbei um kein leichtes Gepäck handelte. 15 Kilogramm wiegt der komplette Anzug - von Kopf bis Fuß. Bislang hatte ihn noch niemand getestet - es war also ein Premiere. Zunächst gab es einen schicken, blauen Overall - der jedoch mehr dekorativ war und lediglich zum Schutz der Kleidung diente.
Nach und nach wurden die Bewegungen immer mehr eingeschränkt
Danach ging es recht zügig. Nach und nach wurde meine Bewegung immer mehr eingeschränkt. An die Füße bekam ich Gewichte - sie sollen die verringerte Beinkraft simulieren. An den Knien ging es weiter. Wieder Gewichte. Schon jetzt fühlte ich mich schlapp, wollte nur noch sitzen. Doch dazu kam ich nicht.
Weiter ging es am Oberkörper. Eine Spezial-Weste wurde angelegt. Für Rücken- und Brustbereich gab es erneut Gewichte und Versteifungselemente, ein Reißverschluss vorn verengte noch einmal alles. Kurz fühlte ich mich wie ein Soldat bei der Bundeswehr mit diesen elendig schweren Rucksäcken - nur in einer deutlich schlechteren Kondition.
Durch Kopfhörer wird das Hörvermögen auf 60 Prozent reduziert
Auch die Arme und Hände wurden mit weiteren Gewichten ausgestattet. Dann sollte noch eine Halskrause folgen. Das Problem: Meine Haare waren zu dem Zeitpunkt noch offen. Ein großer Fehler, wie ich schnell bemerkte. Ich konnte meine Arme nicht beugen, geschweige denn diese Richtung Hinterkopf führen. Jeder Versuch verursachte unnötige Kraft und Anstrengung. Alleine hierbei auf Hilfe angewiesen zu sein, löste in mir ein befremdliches Gefühl aus.
Als hätte all das nicht schon gereicht, nahm man mir nun noch mein Hör- und Sehvermögen. Durch die Kopfhörer konnte ich nur noch 60 Prozent hören. Jegliche Worte, die von mir folgten, kamen sicherlich sehr laut an. Zum Schluss gab es noch eine Brille, die eine altersbedingte Netzhautablösung imitierte. Man stelle sich das so vor: Auf jedem Brillenglas ein dicker, fetter schwarzer Kreis. Drumherum sind die Gläser stark beschmutzt, nur gibt es kein Brillenputztuch, das da hilft. Ich versuchte über den schwarzen Punkt, neben den schwarzen Punkt zu schauen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran.
Der Weg hinunter gestaltete sich doch deutlich einfacher als nach oben
In voller Montur stand ich nun vor einer Treppe. Ich sah aus wie eine Mischung aus einem Bauarbeiter und einem Astronauten. Von Außen betrachtet wirkte ich wohl wie jemand, der auf einer Mission unterwegs war. Und das war ich auch: Die Treppe bewältigen.
Der Weg hinunter gestaltete sich doch deutlich einfacher als nach oben. Das Gewicht zog einen ohnehin nach unten. Ich krallte mich am Geländer fest, damit ich nicht eine Stufe übersehe - denn wirklich etwas sehen konnte ich nicht, höchstens Umrisse. Nach einigen Stufen machten sich bereits Rücken- und Nackenschmerzen bemerkbar. Ich hatte den Anzug gerade einmal zehn Minuten an. Mit viel Mühe und Not schaffte ich die Treppen hoch und runter. Nach einer gewissen Zeit wurde es irgendwann leichter. Tatsächlich gewöhnte ich mich an den Zustand. Nur als ich den Anzug wieder auszog, merkte ich den enormen Unterschied. Erleichterung machte sich breit.
„Man kann eben viel erzählen, es aber nicht greifbar machen“
Aus einer knapp 80-jährigen Frau wurde wieder eine Mitte 20-Jährige. Ich hatte schon immer großen Respekt vor dem Alter. Nur eben ausmalen, wie es sich wohl anfühlen mag, wenn jeder Tag zur Herausforderung wird, konnte ich nicht. „Man kann eben viel erzählen, es aber nicht greifbar machen“, erklärte Franziska Siemke am Ende noch einmal.
Der Anzug macht es greifbar, wenn auch eben nur zu einem Bruchteil. Schmerzen, psychische Befindlichkeiten, die mit den körperlichen Beeinträchtigungen einhergehen, lassen sich logischerweise nicht nachempfinden. Ebenso können auch Sprachprobleme nur schwer simuliert werden. Aber der Anzug hilft, Menschen zu sensibilisieren, Verständnis zu erlangen. (mz)