1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Jessen
  6. >
  7. Erinnerung an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953: Pfarrhausn Seyda erlebt dramatische Tage im Juni ´53

Erinnerung an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Pfarrhausn Seyda erlebt dramatische Tage im Juni ´53

In Schilderungen und Originaltönen erstehen die Tage des Volksaufstandes von 1953 im Pfarrhaus Seyda wieder. Dort versteckte Pfarrer Hagendorf Streikführer aus Bitterfeld.

Von Klaus Adam 03.01.2025, 16:51
„Zehn Tage im Juni“, gemeint ist der 17. Juni 1953, erstehen akustisch im Pfarrhaus Seyda wieder. Streikführer  kamen hier auf der Flucht unter.
„Zehn Tage im Juni“, gemeint ist der 17. Juni 1953, erstehen akustisch im Pfarrhaus Seyda wieder. Streikführer kamen hier auf der Flucht unter. Foto: Klaus Adam

Seyda/MZ. - Es ist der Abend des 17. Juni 1953. Die zwei Männer auf dem Motorrad fahren, bis der Tank leer ist. Auf Nebenstraßen haben sie sich durchgeschlagen. Sie wissen, werden sie entdeckt, kann das ihr Ende bedeuten. Vor einiger Zeit haben sie sich, möglicherweise in Elster, über die Elbe übersetzen lassen. Ihr Plan, sich in einer LPG Benzin zu holen, misslingt. „Wir haben kein Benzin“, habe die Antwort gelautet. „Da mussten wir das Motorrad stehenlassen – das heißt also: Die wollten billig zu einem Motorrad kommen. Und da ging’s zu Fuß weiter.“

So lässt sich Seydas Pfarrer Thomas Meinhof das Geschehen schildern, das zwei der Streikführer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 aus Bitterfeld ins Seydaer Pfarrhaus verschlägt. Aufgeschrieben hat er es vor 21 Jahren anlässlich des 50. Jahrestages der Geschehnisse in der frühen DDR. Dazu besuchte er den Zeitzeugen im Hessischen.

Dramatische Stunden

Wilhelm Fiebelkorn, so heißt der Vorsitzende und Sprecher des damaligen Kreisstreikkomitees, hat seine Erlebnisse dem Seydaer Pfarrer geschildert. Er hat sie aufgeschrieben. Und dieses kleine Heftchen, das es inzwischen 21 Jahre gibt, hat noch nichts von seiner Bedeutung als Dokument der Zeitgeschichte eingebüßt.

Thomas Meinhof als heutiger Pfarrer und Bewohner des Hauses, in das sich die beiden Männer an jenem dramatischen Abend retten konnten, und der Heimatverein Seyda haben diesen Schilderungen neues Leben eingehaucht. Gemeinsam mit dem Theaterprojekt Polyformers aus Berlin entwickelten sie gemeinsam ein Hörstück, wie sie es nennen, das den Geschehnissen nun auch einen akustischen Rahmen gibt und ihre Brisanz damit beinahe hautnah nacherlebbar macht.

In den Schutz der Kirche

„Weißt du, wer uns Obdach geben muss? Direkt muss! Ein Pfarrer! Und wenn es nur für eine Nacht ist. Das hat Jesus verlangt.“ Mit diesen Worten habe Fiebelkorn seinem Begleiter Sowada den Weg vorgegeben. Zwischen Schweinehälften auf einem Pferdefuhrwerk erreichen sie Seyda und suchen sofort den Pfarrer Hagendorf auf. Für ihn, den Pfarrer, sollte die Beherbergung der Bitterfelder Streikführer noch weitreichende Folgen haben.

Er wurde verraten, noch im September 1953 festgenommen und 1954 zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Weil er, so die Begründung, wie sie Pfarrer Meinhof niederschrieb, „Teilnehmer an einer gegen unseren Staat gerichteten Verschwörung“ war. Eine Berufung wurde abgelehnt. Beantragt worden war für ihn eine Haftstrafe von vier Jahren. Seine Frau wurde erst Ende August von dem Urteil informiert.

Pfarrer Thomas Meinhof (Mi.) bedankt sich bei Markus Stolle für die Mitarbeit sowie bei Fabian Rosonsky (li.).
Pfarrer Thomas Meinhof (Mi.) bedankt sich bei Markus Stolle für die Mitarbeit sowie bei Fabian Rosonsky (li.).
(Foto: Klaus Adam)

Dass Pfarrer Hagendorf schon im Herbst 1954 entlassen wurde, ist der Amnestie zum fünften Jahrestag der DDR zu verdanken. Allerdings wurde er den Annalen zufolge mit einem Redeverbot belegt, so dass er seinen Beruf als Pfarrer nicht mehr ausüben konnte. Aufgrund eines Sterbefalles durfte er etwas später in den Westen reisen und blieb dort. „Viele Menschen aus unseren Orten sind in diesen Tagen nach Westberlin geflohen, insbesondere Bauern“, erinnert Thomas Meinhof in den Schlussbetrachtungen des Heftchens mit den Schilderungen der Geschehnisse von damals. „Es gab auch welche, die aufgrund der schlimmen Verhältnisse in den Lagern dort wieder umkehrten und zurückkamen, jedoch war das eher die Ausnahme.“

Wichtig für die Jüngeren

Als „ganz wichtig für das Geschichtsbild der jüngeren Generation“ empfindet Markus Stolle, der Vorsitzende des Seydaer Heimatvereins, dieses Stück. Zur Premiere werden die etwa zwei Dutzend Besucher zu insgesamt vier Stationen geführt. Stationen, die den Kapiteln des Stückes entsprechen. Das ist nicht einfach ein Podcast. Die Schilderungen der Akteure und später von Verfolgung Betroffenen werden durch Sprecher gestaltet und durch Originaltöne ergänzt.

Viele der inhaltlichen Komponenten steuerte Seydas Pfarrer Thomas Meinhof aus seinen persönlichen Recherchen bei. Er sagt: „Hiermit wird unsere Geschichte in Seyda auf besondere Art beleuchtet.“ Und: „Für mich ist Pfarrer Hagendorf ein Vorbild.“

Und Ronald Gauert, der das Projekt des Kreises „Partnerschaft für Demokratie“ vertritt, bewundert den großen Mut, den die Akteure vor nunmehr fast 72 Jahren aufbrachten, sich gegen die Indoktrination der DDR-Oberen zu jener Zeit zu wehren. Die Partnerschaft für Demokratie förderte das Projekt „Zehn Tage im Juni – Geschichten aus dem Versteck der Bitterfelder Streikführer des 17. Juni in Seyda“ mit 6.400 Euro. „Ursprünglich wollten wir ein Theaterstück machen“, berichtet Projektleiter und Regisseur Fabian Rosonsky vom Theater Polyformers. „Aber die dafür nötigen und beantragten Fördermittel haben wir nicht bekommen. Wir wollten das Thema aber unbedingt umsetzen und haben es deshalb auf diese Weise getan“, erläutert er den Gästen des Abends.

Auch in der Pfarrscheune lauschen die Gäste den Schilderungen.
Auch in der Pfarrscheune lauschen die Gäste den Schilderungen.
Foto: Kl. Adam

Die stehen erstmal vor dem Pfarrhaus, wie seinerzeit die Streikenden vor den Rathäusern und hören die thematische Einführung. In vier verschiedenen Stationen, im Pfarrhaus, im Garten und in der Scheune werden sie thematisch weitergeführt.

Dieser „Live“-Podcast ist bis zum Juni dieses Jahres an jedem zweiten Sonntag im Monat um 10.30 Uhr am gleichen Ort, also im Pfarrhaus in Seyda, zu erleben. Das nächste Mal also am 12. Januar. Am 17. Juni 2025 ist eine umfangreichere Abschlussveranstaltung des Projektes geplant.