Diest-Hof in Seyda Diest-Hof in Seyda: "Noch ein langer Weg"
Seyda - Ein informeller Besuch führte Anja Naumann, Staatssekretärin im Ministerium für Arbeit und Soziales von Sachsen-Anhalt, auf den Seydaer Diest-Hof. Die diakonische Einrichtung zur Lebensbegleitung von Menschen mit geistigen Behinderungen hat ein besonderes Flair, das erkannte die Frau aus der Landeshauptstadt auf Anhieb: die zu großen Teilen historisch gewachsene Bebauung, die eigene kleine Landwirtschaft, einschließlich einiger Tiere, deren Produkte im Sinne einer möglichst weitreichenden Selbstversorgung in der Diest-Hof-Küche verarbeitet werden, die nahezu familiäre Tagesförderung und die privilegierte Lage im Grünen.
Auch Andreas Gebhardt gab zu, dass er sich dem Reiz des Diest-Hofs von Anfang an nicht entziehen konnte. „Ich bin seit vier Jahren hier und war sehr überrascht von der Einrichtung. Ich habe mich sofort in sie verliebt. Hier wird vieles ein bisschen anders gemacht als anderswo.“
Was er damit meinte, zeigten der Geschäftsführer, zwei Vertreterinnen des Gustav-von-Diest-Trägervereins, Gerhard Schäfer als Leiter der Tagesförderung sowie zwei Leiter von Wohnbereichen der Staatssekretärin bei einem Rundgang, bevor man sich zu einer Gesprächsrunde niederließ.
So konnte Anja Naumann einen Blick auf den neu hergerichteten Wohnbereich im Heidehaus werfen, kam im Haus Waldblick mit Bewohnern ins Gespräch und erlebte die Tagesförderung im so genannten Grünen Haus. Hier hatte gerade der „Saftladen“ (Getränkeangebot) geöffnet. Zu der Interaktion am „Saftladen“ merkte Gerhard Schäfer an: „Die Arbeiter aus der Diest-Hof-Landwirtschaft bekommen Gutscheine, die sie umsetzen können.“ Aber auch mit Bargeld zu bezahlen, sei möglich. Einschränkend musste er anfügen, dass nicht alle Bewohner in der Lage sind, mit Geld umzugehen.
Beim Blick in den Secondhandladen und die Pinnwand-Herstellung erfuhr die Staatssekretärin, dass viele Bewohner weit über das Renteneintrittsalter hinaus beschäftigt werden wollen. Im Stall, in dem Kaninchen und Schweine (für die es übrigens auch eine Koppel im Wald gibt) gehalten werden, ließ sie sich von Gerhard Schäfer darüber aufklären, dass die Diest-Höfler „kein Problem damit haben, dass die von ihnen betreuten Tiere am Ende geschlachtet werden“.
Starres Regelwerk
Im Konferenzraum hielt Andreas Gebhardt, der auch Diakon ist, eine kurze Fürbitte, dann wandte sich die Runde fachlichen Themen zu. Darunter, aus Sicht des Diest-Hofs, mitunter handfeste Problemlagen. Zum Beispiel der Fachärztemangel auf dem flachen Land. „Das hat weite Wege und einen hohen Zeitaufwand zur Folge.“ Vor Ort gebe es nur einen Allgemeinmediziner und einen Zahnarzt. Der Neurologe komme aus Berlin.
Andreas Gebhardt beklagte außerdem das starre Regelwerk auf dem Behindertensektor. Er hätte zum Beispiel gern einen geistig behinderten Mann in eine halbe Gärtnerstelle auf dem Diest-Hof gebracht. Das wäre aber nur als Außenarbeitsstelle einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) möglich gewesen, was letztlich an der Finanzierung scheiterte.
Ebenso machte der Diest-Hof-Geschäftsführer einige Anmerkungen zum Personalschlüssel. Der sollte, so sein Wunsch, aufgestockt werden, damit in einer Einrichtung wie dem Diest-Hof ältere pflegebedürftige Menschen bis zu ihrem Tod begleitet werden können und nicht in ein Pflegeheim gegeben werden müssen. Ein längerer Disput entspann sich zu den Themenkreisen WfbM und Inklusion. Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz formulierten die Diest-Hof-Vertreter, dass man die Arbeit der Behinderten in den Werkstätten mehr wertschätzen und daher besser entlohnen sollte, über das Taschengeld hinaus, das sie gegenwärtig erhalten.
Anja Naumann beschwor diesbezüglich: „Die WfbM dürfen nicht zur Billigkonkurrenz für Gewerbebetriebe werden.“ Und plädierte dafür, die Alternative zu nutzen, Behinderte in Gewerbebetrieben unterzubringen. „Aus der Abschottung heraus in die Mitte der Gesellschaft.“ Sie musste aber einräumen: „Das ist noch ein langer Weg.“ Doch: „Produzieren muss nicht nur effektiv sein, sondern auch menschlich.“ Was wiederum Gerhard Schäfer für sehr optimistisch formuliert und schlichtweg nicht umsetzbar hielt - „in unserer heutigen Gesellschaft nicht“. Einem Unterkommen von Geistigbehinderten auf dem ersten Arbeitsmarkt räumte er nur Chancen ein in Verbindung mit einem Kostenausgleich. Damit zusammenhängend zog Gerhard Schäfer auch in Zweifel, das Inklusion in dieser Gesellschaft wirklich funktionieren kann. Das wollte Anja Naumann nicht gelten lassen: „Der Umdenkungsprozess hat eingesetzt.“ Wobei sie auf die positiven Veränderungen der zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte verwies. (mz)