Neue Chance durch Tagelöhner-Jobs
Halle/MZ. - "35 Straßenkinder aus ihrer Umgebung zu holen, das war Schwerarbeit", blickt Hans-Martin Ilse zurück, der die Anlaufstelle "Schirm" seit 2001 leitet. Das Wichtigste sei gewesen, den Kontakt zu den auf der Straße lebenden jungen Menschen aufzubauen, um zu vermitteln, dass sie sich auf die
Schirm-Mitarbeiter verlassen können und die Tür für sie immer offen steht. "Auch wenn sie uns zehn oder 20 Mal enttäuscht haben", wie er sagt.
Denn das Leben ohne festen Wohnsitz habe seine eigenen Regeln, denen sie sich auf Gedeih und Verderb unterordnen müssen. "Die jungen Leute werden getrieben von Gläubigern, Freiern und Dealern. Sie müssen immer auf der Hut sein vor Gewalt", erklärt er. Da sei es wichtig, dass sie wissen, wo sie jeder Zeit eine warme Mahlzeit und ein Bett finden. Über diese Grundbedürfnisse kommen die Schirm-Mitarbeiter an sie heran, können sie beraten - und ihnen Arbeit anbieten.
Hans-Martin Ilse, Pfarrer, Sozialwissenschaftler und Pädagoge, sieht in dem besonderen Jobangebot ein "Sprungbrett", sie von der Straße zu holen, sie an Tagesstrukturen zu gewöhnen und ihnen Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Gearbeitet werde nach dem Tagelöhner-Prinzip: "Wer will, kommt, erhält eine Aufgabe und sofort Geld im Rahmen der Hinzuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV", sagt er. In Trotha können die Jugendlichen entweder in der Lehmziegel-Manufaktur arbeiten oder aber Einrichtungen wie Kirchengemeinden bei der Grünflächenpflege und ähnlichem mehr helfen.
Dass das so gut ankommt, hat ihn selbst überrascht: "Die Jugendlichen stehen Schlange, anfangs mussten wir die Arbeit sogar verlosen", erzählt er. Nicht jeder komme jeden Tag, in der Tendenz aber zunehmend regelmäßiger. Dann könne man auch mit der Drogenentwöhnung beginnen und Wohnungen besorgen. Das geschehe mit Partnern wie der Drogenberatung Drops in einem speziellen städtischen Netzwerk.
Im Durchschnitt dauert es zwei Jahre, bis eine "Straßenkarriere" beendet ist, Rückfälle eingeschlossen. Sogar langjährigen Straßenkindern habe geholfen werden können. "Das hätte ich vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten", so Ilse. Manchmal trifft er ehemalige Schützlinge in der Stadt und staunt. Über die junge Frau zum Beispiel, die jahrelang gekifft hat, davon losgekommen ist und nun ein Kind und einen festen Partner hat. Oder über die zwei jungen Männer, die jetzt nicht nur eine Lehre absolvieren, sondern sich auch vom Äußeren her total verändert haben, wie er erzählt.
Nun leben noch fünf über 18-Jährige auf der Straße, die sich aber partout nicht helfen lassen und die nach so vielen Jahren wohl auch keine andere Lebensform mehr wollen. "Wichtig ist, dass keine neuen Straßenkinder, vor allem Minderjährige, hinzu kommen."
Dass das Schirm-Projekt demnächst überflüssig wird, glaubt Ilse nicht. Denn außer den Straßenkindern werden noch etwa 230 sozial benachteiligte junge Leute im Alter zwischen 14 und 27 Jahren betreut. Da sei der Beratungsbedarf enorm angestiegen.
Zwar finanzieren Stadt und Land das Projekt, ergänzt durch Spenden. "Was uns jedoch fehlt, sind ehrenamtliche Mitstreiter für Küche, Wäsche und Kleiderkammer." Wer helfen wolle, sollte unbedingt eine tolerante Lebenseinstellung mitbringen und erst mal auf Probe kommen.