Mord an Mariya N. in Halle Mord an Mariya N. in Halle: Eine Tat im Dunkeln
Halle (Saale) - Es sind nur einige wenige Blumen geblieben, zerzaust und grau. Der Rest eines Bilderbuches liegt daneben, im Zustand fortgeschrittener Zersetzung. Die Metall-Skulptur, die ein Hobbykünstler für die vor einem Jahr in Halle ermordete bulgarische Studentin Mariya N. ans Ufer des Mühlgrabens gestellt hatte, ist schon vor Monaten gestohlen worden. Eine Spur zu den Dieben gibt es bis heute nicht.
Dass die 13 Beamten der Kripo-Sonderkommission „Neuwerk“, so genannt nach dem mutmaßlichen Tatort, frustriert sind, hat allerdings nichts damit zu tun. Ihnen liegt vielmehr schwer im Magen, dass zwar zwölf Monate lang mit Hochdruck ermittelt wurde. Doch eine heiße Spur zum Vergewaltiger und Mörder der 29-Jährigen, die in Halle Betriebswirtschaftslehre studiert hatte, gibt es bis heute nicht.
Ermittlungsansätze fehlen
Schlimmer noch: Es fehlen unterdessen sogar neue Ermittlungsansätze, wie ein Beamter erklärt. „Wir haben alles gemacht, persönliches Umfeld, DNA, Handyverbindungen, und es ist nirgendwo etwas herausgekommen.“ Klaus Wiechmann von der Staatsanwaltschaft in Halle, die die Ermittlungen leitet, bestätigt das. „Sowohl das soziale Umfeld als auch der Wohnbereich wurden abgeklopft, wir haben Jogger befragt und neben einer molekular-genetischen Reihenuntersuchung auch eine Funkzellenauswertung durchgeführt“, beschreibt der Staatsanwalt die Dimension der Fahndungsarbeit. Zudem wurden die Tatumstände mit anderen Fällen in ganz Deutschland verglichen, ähnliche Taten aus dem Sexualbereich auf Parallelen abgeklopft, es wurde eine Belohnung für Hinweise ausgelobt, man hat Plakate geklebt und im Fernsehen um Mithilfe gebeten.
Aber nichts. Nachdem sich auch im privaten Bereich von Mariya N. keine Hinweise auf eine Verbindung zum Täter ergaben, richteten sich die Hoffnungen der Polizei auf die an der Leiche sichergestellte DNA-Spur. „Es handelt sich um ein männliches DNA-Profil, von dem wir sicher sind, dass es uns direkt zum Täter führen würde, sobald wir eine passende Vergleichsspur finden.“
Entsprechend groß ist der Aufwand, den die Soko seit Monaten betreibt. 2 130 Speichelproben von Männern, die Verbindung zu Mariya N. oder dem Tatort haben könnten, wurden von den Männern um Kriminalhauptkommissar Holger Jungklaus genommen und verglichen, 70 000 Euro hat das gekostet. „Es gab eine große Bereitschaft, mitzuhelfen“, sagt Wiechmann. In einigen Fällen meldeten sich infragekommende Personen sogar selbst, in anderen wurden Jogger und Hundehalter, in den Tagen nach dem Mord in der Nähe des Tatortes von Beamten angesprochen und gebeten, zu einer Befragung zu erscheinen.
Wie viele Männer eine DNA-Probe verweigerten und und wie viele Menschen als Zeugen in Frage kamen, lesen Sie auf Seite 2.
Nur 30 Männer, die um eine DNA-Probe gebeten wurden, weigerten sich, rechnet Wiechmann vor. In diesen Fällen versucht die Polizei, die Betreffenden auf andere Weise als Täter auszuschließen. „Wenn jemand im Urlaub war, kann er es ja nicht gewesen sein.“ Gleichzeitig stellt Klaus Wiechmann klar, dass eine Weigerung keinerlei Schlüsse zulasse. „Das ist ihr gutes Recht, mancher hat eben Angst, zum gläsernen Bürger zu werden“, sagt der Staatsanwalt. Obwohl es sich um eine unbegründete Angst handele: „Es erfolgt keinerlei Archivierung der Proben oder der erstellten DNA-Profile“. Eine Botschaft auch an die 400 Männer, die noch eine Genspur abgeben sollen, die dann mit der mutmaßlichen Täter-DNA abgeglichen wird. „So lange wir nicht alle Proben verglichen haben, besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass unser Mann dabei ist.“
Unter den mehr als 4 200 Männern, deren Handys mit Hilfe einer sogenannten Funkzellenabfrage in der Tatnacht in Tatortnähe lokalisiert werden konnten, war er jedenfalls nicht. „Es sind alle Männer im geschlechtsfähigen Alter befragt worden, deren Handy zur fraglichen Zeit in dem Bereich in einen Funkmast eingeloggt war“, erläutert Klaus Wiechmann. 120 der Betreffenden seien als Zeugen infrage gekommen. „Bei diesen Personen gab es die Hoffnung, dass sie etwas gesehen haben.“
Die Gefahr lauerte im Dunkel
Doch nichts. Vielleicht auch aufgrund der Umstände am Rande des Freizeitgebietes Peißnitz. Ein betonierter Fußweg führt hier am Wasser entlang um eine Sportanlage herum. Nach 21 Uhr an jenem 6. Februar vor einem Jahr muss es hier, einen Steinwurf entfernt vom Rand der Innenstadt, völlig dunkel gewesen sein. Eine Straßenlampe gibt es nur am Anfang des Weges, der Rest der Strecke zur Fontäne gleicht seit Jahren einem düsteren Tunnel, den viele Frauen aus Furcht meiden. Ein Zustand, der der Stadtverwaltung bekannt ist. Zuständig seien die Stadtwerke, heißt es im Rathaus. Eine Anfrage dort, ob es Pläne gibt, Lampen zu installieren, bleibt unbeantwortet.
Mariya N. hat im Dunkeln offenbar keine Angst gehabt. Sie ist in Halle zu Hause, sie hat hier viele Freunde, sie jobbt in Kneipen und als Garderobiere. Sie denkt an diesem warmen Winterabend offenbar nicht daran, dass ihr einen Steinwurf entfernt vom Campus der Kunsthochschule Burg tödliche Gefahr drohen könnte.
Was für ein Täterprofil erstellt wurde und auf welchen Durchbruch die Ermittler hoffen, lesen Sie auf Seite 3.
Und doch. Alle Ermittlungsergebnisse sprechen dafür, dass ihr genau das zum Verhängnis wurde. Die von den Neuwerk-Beamten herangezogenen LKA-Spezialisten für operative Fallanalyse haben ein Täterprofil erstellt, nach dem der Vergewaltiger und Mörder der Studentin wahrscheinlich nicht planmäßig, sondern aufgrund einer sich bietenden Gelegenheit handelte. „Er könnte ein anderer Jogger oder ein später Spaziergänger gewesen sein, der zufällig auf Mariya N. traf“, beschreibt Klaus Wiechmann. Er könnte irgendeiner Frau aufgelauert haben und Mariya war zu ihrem Unglück die, die zuerst auftauchte. Der Umstand aber, dass der Mann seine DNA an der Leiche hinterließ, spricht nach Ansicht der Experten für Täterprofile gegen einen Mordplan. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit ergab sich eine Gelegenheit und ein kurzentschlossener Täter hat sie genutzt“, sagt Klaus Wiechmann.
Die Aufklärungsquote bei Mord liegt in Deutschland bei über 90 Prozent. Einige Fälle bleiben aber trotz intensiver Ermittlungen auch auf lange Zeit ungelöst.
Seit mehr als 20 Jahren ist der Mord an einem 20-jährigen Musikstudenten ungeklärt, der in Halle auf offener Straße erschossen wurde. Das Projektil blieb in seinem Geigenkasten hängen - es gilt seitdem als wichtigstes Beweismittel in dem Fall. Der Student hatte seine Freundin am 11. Mai 1994 vor einer sexuellen Belästigung schützen wollen und war dem Täter hinterhergerannt. Dann fiel ein Schuss.
Die Leiche der 19-jährigen Heike Rimbach war im August 1995 von ihrem Vater auf dem Dachboden des Elternhauses in Lüttgenrode (Landkreis Harz) gefunden worden. Sie war an einem Hanfseil aufgehängt, wies Würgemale, zahlreichen Stichwunden und Schädelverletzungen auf. 2009 schien der Fall geklärt, als ihr ehemaliger Freund verhaftet wurde. Er kam aber bald wieder frei, die Ermittlungen gegen ihn wurden im Jahr 2011 offiziell mangels Tatverdacht eingestellt.
2014 starteten die Ermittler über die ZDF-Reihe „Aktenzeichen YX ungelöst“ einen neuen Versuch, ihrem Mörder auf die Spur zu kommen. Die 16-jährige Anja wurde 1998 erstochen. Sie hatte den Abend des 4. September in einer Diskothek verbracht, wurde am folgenden Morgen von einer Zeitungszustellerin blutüberströmt im Eingang ihres Wohnblockes gefunden.
Am 6. März 1998 findet ein Lkw-Fahrer auf einem abgelegenen Gelände in Magdeburg den schwer verletzten Manager der Südtiroler Volksmusikgruppe „Kastelruther Spatzen“. Karl-Heinrich Gross stirbt wenig später trotz Notoperation. Wegen eines defekten Autos war er in Magdeburg geblieben, während der Rest der Band weiterzog. Gross wurde erschlagen.
Offiziell zählt er als Vermisstenfall, auch wenn die Ermittler nicht daran glauben, dass Mandy Schmidt noch lebt. Eine Leiche wurde allerdings nie gefunden. Am 11. April 1998 wurde die damals 13-Jährige aus Halle zum letzten Mal gesehen. Mandys Schwager wurde später wegen Missbrauchs des Mädchens verurteilt. Dass er auch mit ihrem Verschwinden etwas zu tun hat, konnte nie bewiesen werden. Vor wenigen Jahren ließ die Familie Mandy für tot erklären.
Für die Fahnder macht der womöglich spontane Entschluss die Suche nach dem Unsichtbaren besonders schwer. Und das völlig unabhängig davon, dass das Ermittlungsverfahren große Startschwierigkeiten hatte, weil der zum Fundort der Leiche gerufene Notarzt keine Hinweise auf ein Verbrechen entdecken konnte. „Es wurde trotzdem eine Sektion veranlasst, bei der dann eindeutige Würgemale festgestellt wurden.“ Da dabei die Fremd-DNA am Körper des Opfers intakt gesichert wurde, habe die anfangs falsche Einordnung „nicht zu Ermittlungsverlusten geführt“. Der Staatsanwalt ist sicher: „Wir stehen da, wo wir auch stehen würden, hätten wir 24 Stunden früher angefangen.“
Offene Rechtshilfeersuchen nach Russland, Schweden und Polen
Vor einem beständig schrumpfenden Vorrat an neuen Ermittlungsansätzen vor allem. Vielleicht bringen die verbleibenden DNA-Proben den Durchbruch, vielleicht ist unter den 18 Hinweisen, die nach einer erneuten Fernseh-Fahndung eingingen, doch noch ein ernsthafter Tipp. Offen sind Rechtshilfeersuchen nach Russland, Schweden und Polen, wohin Kommilitonen von Mariya N. zurückgekehrt waren, ehe die Ermittler der Soko mit ihnen sprechen konnten. Klaus Wiechmann will die Hoffnung nicht sinken lassen, dass der Mörder von Mariya N. gefunden wird. „Aber wahr ist auch, dass es noch keinen roten Faden gibt, der uns direkt zu ihm führt.“ (mz)