"Dieser Song ist für alle" Joan Baez singt auf der Peißnitz in Halle

Halle (Saale) - Kurz nach 20 Uhr legt der Platzregen am Samstagabend eine Pause ein, die 77-jährige US-amerikanische Folksängerin Joan Baez, Stimme der Friedensbewegung, erscheint auf der Freilichtbühne der halleschen Peißnitz. Es ist, als hätte sie kurz vorher mit jener majestätisch-grazilen Aura, die sie umgibt, ein kleines, beschwichtigendes Handzeichen in den Himmel gesandt.
„Don’t think twice, it’s all right“ von Bob Dylan eröffnet. Baez und die Akustikgitarre, Baez und die dunkle Seite der Straße. Schon nach wenigen Sekunden hat sie das Publikum gepackt. Eine stille und respektvolle Atmosphäre schleicht sich zwischen die ausverkauften bestuhlten Reihen. Plötzlich bewegen sich viele Menschen langsamer, vorsichtiger, fast schon zärtlich.
Weißes Haar, weißes Hemd - Joan Baez in Halle
Joan Baez bringt eine Geschichte mit, deren Prägungen man ihr hier und heute ablauschen will. Woodstock, Hippies, die Zeiten der sozialen Bewegungen, der Vietnamkrieg und die Rassentrennung. Martin Luther King, der Pazifismus und die Protestsongs.
Letztere sind nie ausgestorben, nur die globalen Bewegungen, die auf sie zurückgreifen, die aus ihnen überhaupt erst einmal Protestsongs machen, haben an raumgreifender Kraft eingebüßt. Stattdessen blüht der Soundtrack nationaler Begrenzung, wird heute der utopische Gehalt der 68er mit Totalitarismuslehren, die linke und faschistische Strömungen in einen Topf schmeißen, diskreditiert.
Baez, im weißen Hemd steht sie vor der riesigen, schwarzen Bühnenausstattung, weiß um die zerplatzten Träume, sie kennt auch Grausamkeiten, die einst weltverbessernd begannen. Und ebenso überblickt sie die kulturellen Fortschritte, die ihre Generation erreicht hat.
Joan Baez entgeht in Halle geschickt der Gefühlsduselei
Baez leitet den hoffnungsvollen Song „The Times they are a-changin“ mit diesen Worten ein: „Gegenwärtig ist es die schwierigste Zeit, die ich je in meinem Leben erfahren habe. Dieser Song ist für alle, die sich ihr entgegenstellen.“
Die Künstlerin agiert nicht im aggressiven Angriffsmodus, sie erzählt von Geflüchteten, vom Feminismus. Sie berichtet davon, wie niedergeschlagen sie sich oft fühle. Im weißen Scheinwerferlicht entgeht sie trotzdem charmant der Gefühlsduselei.
Von „Somebody got lost in a Storm“, „Farewell Angelina“, „It’s all over now, Baby Blue“ bis „The Boxer“, „Donna Donna“ und „Diamonds and Rust“: Baez und ihre Musiker erschaffen eine meditative, sanfte Stimmung, in der die Sehnsucht nach einer besseren Welt mit einem Verzicht auf verbale Aufrüstung verflochten wird.
Die Texte, Melodien und das rote Scheinwerferlicht, das auf der Bühne wie wärmendes Lagerfeuer wirkt, erzeugen eine künstlerische Sphäre, die die zarten und humanen Potenzen des Publikums aktiviert.
Taucht man in den Kosmos der stolzen Dame ein, lässt man die glasklare Stimme ins Innere und schmeckt man die Schönheit der Schwermut, erwacht man mit erschrockenem Blick. So blamiert Musik die Welt, man kann sich an Heiner Müller erinnern, der einst formulierte, dass es Aufgabe der Kunst sei, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.
Joan Baez spiel in Halle viele Klassiker
So arbeitet die Kunst unserer Abstumpfung entgegen, so bleibt die Sehnsucht erhalten. Von „Amazing Grace“, „Joe Hill“ oder „Another World“ zu „House of the rising Sun“, „Imagine“ und „Me and Bobby McGee“: Immer vermeidet Baez ein übertriebenes Pathos. Eine aristokratische Pflicht, wonach es geboten ist, sich und das Publikum mit Haltung im Leben zu verankern, kleidet das Konzert.
Baez spielt die Klassiker und die Songs vom neuen Album „Whistle down the Wind“ unprätentiös, kurze Seitenhiebe auf Donald Trump müssen genügen. Hier wird ein Gestus geflegt, der sich deutlich vom Show-Modus absetzt. Hinzu kommt Ironie, es gibt Bass- und Trommel-Soli.
Der Mond ist aufgegangen - Joan Beaz singt in Halle
Als das unverwüstliche Antikriegslied „Sag mir, wo die Blumen sind“ auf Deutsch erklingt, liegen weiterhin graue, schwere Wolken über dem prächtig funktionierenden Publikumschor. Als Baez „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius singt, zieht Morgentau-Nebel über die Bühne.
Das Volkslied als zusammenführende Kraft, Songs, die fernab von Nostalgie und einer Moral-Litanei durch ihren jeweiligen Gebrauch politisch werden.
Schon längst steht das applaudierende Publikum. Jung und Alt, man hält sich aneinander fest. Obwohl der vom Regen durchweichte Boden an das Woodstock-Festival erinnert, sieht man heute bedächtige Schritte. Für Momente ist man von jenem Phänomen durchglüht, welches in seiner Schlichtheit manchmal so schwer umzusetzen ist: Menschlichkeit.
Baez hat angekündigt, dass diese „Fare Thee Well“-Tour ihre letzte sei, noch aber trägt sie die Flamme auf ihre eigene Art weiter. Ob die nachfolgenden Generationen das Licht weitergeben? Bestimmt, nur anders, die Zeiten werden sich ändern, so denkt man nach diesem wunderschönen Abend. Ein Hoch auf dieses Lebenswerk. (mz)
