Historie Historie: Lohntüten-Ball in Neuragoczy
SALZATAL/MZ. - Der schmale Waldweg macht misstrauisch. Führt dieser Pfad ins Nichts oder doch nach Neuragoczy, das berühmte frühere Kurbad, das einst zu Salzmünde gehörte? Wir gehen besser zu Fuß.
Das Postauto kommt. Die junge Frau am Steuer pirscht sich energisch an, hält vor einem großen Haus, das schon bessere Tage gesehen hat. Es ist das Kurhaus. Genau gegenüber liegt ein winziger Spielplatz - so klein, als sei er nur für ein oder zwei Kinder angelegt. Nicht alle Klingeln an der Eingangstür des Kurhauses haben ein Namensschild. Nur drei. Doch niemand öffnet. "Kennen Sie hier jemanden?" geht die Frage an die Postfrau. "Ich bin heute zum ersten Mal hier, nur als Aushilfe", sagt die Frau und leert den gelben Postkasten. Ein Haus, das einen eigenen Postkasten hat? Ist ja ein Ding. "Nein, nein", lautet die Antwort, "der ist für den ganzen Ort gedacht."
Ort ist gut. Es ist menschenleer in Neuragoczy. Man braucht keine fünf Minuten, um wieder auf der Straße zu stehen, die zur Fähre nach Brachwitz führt. Und dabei hat Neuragoczy eine - wenn auch kurze - Blütezeit erlebt, die ihres gleichen sucht.
1851 war die Heilwirkung von brom- und eisenhaltigen Quellen in diesem Gebiet erkannt worden. Salzmündes Ortsteilbürgermeister Gerd Kalbitz (parteilos): "Ein Mann namens Runde hatte die Zeichen der Zeit erkannt und ein Badehaus mit Trinkanstalt und einer Parkanlage gebaut." Zu seinem Namen sei der Ort durch den Vergleich mit den Ragoczy-Quellen in Bad Kissingen gekommen, das belegt auch die Salzmünder Chronik. Wie in jedem Kurbetrieb gab sich hier die feine Gesellschaft der Umgebung ein Stelldichein, freilich Kaiser oder Könige waren nicht unter ihnen. Und so konnte Neuragoczy eben auch nie die Größe und Bedeutung etwa von Bad Kissingen erreichen. Auch dann nicht, als noch eine Gaststätte gebaut wurde. So stellte man schließlich 1920 den Kurbetrieb ein. Und schon bald hieß es für ganz andere Besucher des Örtchens mitten im Wald "auf zum Lohntüten-Ball nach Neura".
Die ältesten Salzmünder, so Kalbitz, erinnern sich genau: Es waren meist gut verdienende Angestellte, Handwerker und Beamte, die am Wochenende entweder mit dem Schiff oder der Kutsche aus Halle nach Neuragoczy kamen, um hier zu schwofen, zu flirten und zu feiern. Eine Pontonbrücke verband den Ort mit Brachwitz. Sie wurde 1945 zerstört und 1946 durch eine Fährverbindung ersetzt.
Im Kurhaus zogen Mieter ein. Andere Gebäude wurden vollkommen umgebaut. So entstand auch die Mineralwasserfabrik Neura. Die Produktionsstätte bot Arbeitsplätze für Menschen aus der Umgebung. Das in Flaschen abgefüllte Getränk war beliebt. Und heute, wo sind die Quellen, wenn es schon die Badeanstalt nicht mehr gibt?
Gerd Kalbitz muss enttäuschen. Bereits 1988 wurde die Getränkeproduktion wegen zu hoher Nitratbelastung des Quellwassers eingestellt. Der Versuch Anfang der 90er Jahre, wieder in der Neura-Fabrik alkoholfreie Getränke abzufüllen, scheiterte. Das Wasser der Quellen habe nicht die Qualität besessen, um getrunken zu werden, erinnert sich der Ortsbürgermeister.
Eine Renaissance des Neura-Mineralwassers wird es also nicht mehr geben. Ebenso wenig wie die rauschenden Bälle im Kurhaus. Es ist still geworden, nur wenige Familien leben hier im Wald. Bloß ein paar alte Fotos erinnern noch an das Neuragoczy Anfang des vorigen Jahrhunderts.