Halle Halle: Mediziner operiert Babys im Mutterleib

Halle (Saale)/MZ. - "Es lohnt sich." Das denkt Prof. Michael Tchirikov jeden Morgen, wenn er die Fotos in seinem Arbeitszimmer betrachtet. Viele Baby-Bilder sind dort an einer Magnetwand befestigt; sie stammen aus ganz Deutschland und sogar aus dem Ausland. Zu sehen sind Kinder, die ohne das Zutun von Tchirikov wohl nie das Licht der Welt erblickt hätten: Denn der neue Chef der Klinik für Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin der Uni Halle beherrscht wie nur wenige in seiner Zunft die so genannte fetale Chirurgie, soll heißen: Er operiert Babys, die noch im Mutterleib sind.
"Ein solcher Eingriff wird nur dann gemacht, wenn das Kind sonst sterben würde oder das Risiko für massive gesundheitliche Schäden sehr hoch ist", erklärt Tchirikov. Vor wenigen Tagen führte er erstmals an seiner neuen Wirkungsstätte in Halle einen derartigen Eingriff aus. Die Patientin, eine schwangere junge Frau, reiste dafür extra aus Berlin an.
Bei ihrem noch ungeborenen Kind wurde eine so genannte Hernie festgestellt, also ein Loch am Zwerchfell. Wird dieses Loch vor der Geburt nicht geschlossen, gerät das Kind in akute Gefahr: "Die inneren Organe steigen durch das Loch aus dem Bauchraum in den Brustkorb", erklärt Tchirikov. Die Folge: Die Lungen des Ungeborenen werden zusammengedrückt und können sich nicht entfalten. Mit fatalen Folgen: Das Baby würde im Mutterleib zunächst weiter wachsen. Doch sobald es zur Welt käme, droht ein Horrorszenario: die aufgrund des Drucks unterentwickelten Lungen würden platzen, das Kind würde ersticken.
Einzig eine fetale Operation kann das verhindern. Tchirikov hat sie inzwischen rund 40 Mal ausgeführt, und zwar mit einem von ihm selbst entwickelten Verfahren. Dabei wird durch den Bauch der Mutter ein so genanntes Fetoskop - was nichts anderes ist als ein winziges Endoskop - in den Körper des Fötus eingeführt. Das Kind selbst merkt davon nichts, denn es wird zuvor betäubt. Durch dieses Gerät führt der Operateur einen nur wenige Millimeter großen Ballon zur Luftröhre. Dort wird er entfaltet - dadurch wiederum wird die Luftröhre verschlossen. Der dabei entstehende Druck sorgt dafür, dass sich die Lungen im Verlauf der nächsten zweieinhalb Monate doch entfalten. Dadurch werden die nach oben verrutschten inneren Organe wieder in den Bauchraum zurückgedrängt. Erst dann wird der Ballon wieder entfernt.
Klar, dass ein solcher Eingriff extreme Feinarbeit erfordert. Zum Vergleich: Das Baby aus Berlin, Tchirikovs erster Patient in Halle, befand sich zum Zeitpunkt der OP in der 27. Entwicklungswoche. In dieser Zeit sind Föten etwa 37 Zentimeter lang und rund 900 Gramm schwer.
Eigens für diese Art von Eingriff hat Tchirikov ein winziges Fetoskop entwickelt, das eine renommierte Medizintechnik-Firma nun nach seinen Entwürfen gebaut hat. Das Besondere daran: Es ist leicht gebogen, und sein Durchmesser ist wesentlich kleiner als bei bisherigen Modellen. "Das ist wichtig", erklärt Tschirikow, denn: Je größer das Loch in der Gebärmutter, umso höher das Risiko, dass beim Eingriff die Fruchtblase der Mutter vorzeitig platzt und eine Früh- oder Fehlgeburt ausgelöst wird.
Tchirikov nimmt noch andere Eingriffe an ungeborenen Babys vor: Auch das so genannte Fetofetale Transfusionssyndrom, eine Störung des Blutkreislaufs bei eineiigen Zwillingen, gehört zum Behandlungsspektrum des aus Russland stammenden Mediziners. Bei dieser oft bei Zwillingen auftretenden Störung muss die Plazenta im Mutterleib geteilt werden, damit beide Kinder überleben können.
Bei allen Eingriffen gilt: "Man muss besonders zart vorgehen", sagt Tchirikov, der über wahre Pianisten-Hände verfügt. Lange, schlanke und geschickte Finger seien jedoch nur das eine, sagt der 43-Jährige. Die richtigen Instrumente und Übung seien die andere Komponente, so der Arzt, der seine ersten Schritte beim Operieren von Föten übrigens an schwangeren Schafen trainiert hat. "Man braucht ein Gefühl für die Zartheit des Gewebes", erklärt er. Jeder noch so dezente Druck zu viel kann den Fötus verletzen.
Vielen Kindern hat Tchirikov schon das Leben gerettet. Oft melden sich die Eltern später wieder bei ihm. Davon zeugt auch die Fotowand in seinem Arbeitszimmer. Sechs eigene Kinder hat Tchirikov, der mit seiner Familie im Mai nach Halle gezogen ist. "Kinder", sagt der Mediziner, "sind etwas Wunderbares."