Drogenhandel auf dem Boulevard Drogenhandel auf dem Boulevard: Dealer aus Afrika sind nur die kleinen Fische
Halle (Saale) - Schüchtern schaut der kleine Mann zum Richtertisch. Bacadi D. wirkt verunsichert. Was passiert hier? Und was passiert mit mir?, scheint der 22-Jährige zu fragen. Langsam beugt sich Dolmetscher Barry Mamadou hinüber und übersetzt. Bacadi D. ist erst ein Jahr in Deutschland, er spricht kein Wort Deutsch. Als Richterin Kathleen Aschmann nach seinem Geburtsdatum fragt, versteht er auch die Übersetzung nicht. 26. Februar 1999, gibt er an. Als Aschmann aus der Akte den 11. Januar 1995 zitiert, nickt er. „Das stimmt“, übersetzt Mamadou in D.s Sprache Mandinka.
Bacadi D. kommt aus Guinea-Bissau, er sitzt seit vier Monaten in Haft. Gleich dreimal ist er auf dem Boulevard in Halle erwischt worden. D. hat jedes Mal Cannabis in „Klemmtütchen“ verkauft, wie die Staatsanwältin beschreibt. Deshalb werde D. angeklagt, heißt es in der Anklageschrift, „geschäftsmäßigen Handel von einigem Umfang“ betrieben zu haben. Laut Gesetz könnte jeder Verkauf mit einem Jahr Haft bestraft werden. Bacadi D., in dicker Winterjacke und rosa T-Shirt mit Goldkettchen, würde seine Flucht aus dem Heim im Harz, dem er nach seiner Flucht aus Afrika zugewiesen worden war, mit Jahren im Gefängnis bezahlen.
Drogenhandel auf dem Boulevard in Halle: Cannabis in „Klemmtütchen“
Bei Adoulaya A. sieht das anders aus. Der 32-jährige aus dem malischen Macina ist schon verurteilt, zu seinem Prozess aber erscheint er als freier Mann. Die neue Anklage wegen Besitzes von Betäubungsmitteln, die Staatsanwältin Sybille Sonntag vorliest, trifft ihn überhaupt nur, weil er im vergangenen November bei einem Ladendiebstahl erwischt worden war.
Die hinzugerufenen Polizeibeamten, die jetzt draußen im Flur sitzen und auf ihren Zeugenaufruf warten, fanden in A.s Hose 4,46 Gramm Cannabis. Und so sitzt er schon wieder hier vor Richter Tobias Liening, der ihn erst vor ein paar Wochen wegen Ladendiebstahls zu acht Monaten ohne Bewährung verurteilt hat.
Adoulaya A. spricht nur eine Sprache, die Bambara heißt. Dolmetscher Idrissa Keita ist aus Berlin angereist. Es ist viel zu tun für ihn und Barry Mamadou in diesen Tagen, in denen die Justiz daran geht, sich um die Folgen der vor einem Jahr verschärften Linie im Umgang mit dem bekannten Drogenumschlagplatz in Halles Mitte zu befassen.
Rund um den Verkehrsknoten in Bahnhofsnähe wurden im Jahr 2015 noch 294 Betäubungsmitteldelikte (BTM) registriert, im letzten Jahr schon 399. Lag die Zahl der sogenannten BTM-Taten in dieser Ecke 2015 bei 80, stieg sie im letzten Jahr auf über 200 und bis Mitte Juni dieses Jahr wurden auch schon wieder über 100 Straftaten erfasst. Eine Welle, die jetzt die Gerichte erreicht: Seit Anfang April hat das Amtsgericht 46 BTM-Anklagen verhandelt. Das sind etwa zehn Prozent aller Verfahren, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben.
Staatsanwalt sagt, wer nach Deutschland kommt, muss sich an Regeln halten
Jeder einzelne Prozess entscheidet ein Schicksal. Junge Männer wie D. und A. sitzen plötzlich in kühlen Gerichtssälen, konfrontiert mit den Bemühungen des deutschen Justizsystems, ihnen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Sie aber irgendwie auch so zu bestrafen, dass ein bisschen Signal nach außen dringt, wie ein Staatsanwalt in einer Verhandlungspause sagt: Wer nach Deutschland kommt, muss sich an Regeln halten. Und wer es nicht tut, dem tut das nicht gut.
In der Anklagebank sitzt heute Abdoulaye T., ein junger Mann im Langarm-Shirt, der aus Guinea-Bissau stammt. T. ist über das Mittelmeer nach Italien gekommen, dort hat man ihm, erzählt er, Fingerabdrücke abgenommen, er aber wollte ja weiter nach Deutschland. T., zwischen den Justizwachtmeistern, die ihn begleiten, ein winziger Kerl, landete in einem Heim in Bitterfeld, die Adresse kennt er bis heute nicht. Er bekam 320 Euro im Monat, ein halbes Jahresgehalt bei sich zu Hause.
T. ist nie zur Schule gegangen, er kann nicht Lesen, nicht Schreiben und er spricht nach „einem Jahr und etwas“, wie er die Zeit in Deutschland summiert, kein Wort Deutsch. Wie denn sein Aufenthaltsstatus sei, will Richter Peter Weber wissen. T. weiß es nicht. Auf Mandinka gibt es kein Wort für „Duldung“. Dass seine Mitte Mai abgelaufen ist, als er schon in Haft saß, liest Weber dann aus der Akte vor.
Polizei findet bei Festnahme Cannabis in Abdoulayes Unterhose
Aus dem Heim ist Abdoulaye T. immer mal nach Halle gefahren. Hier gebe es einen afrikanischen Laden, in dem er heimische Lebensmittel kaufen konnte. Das Geld war dann schnell alle, irgendwoher kamen „falsche Freunde“, wie er sagt. Der 23-Jährige fing an, Drogen zu verkaufen. Ein „Klemmtütchen“ findet die Polizei bei der Festnahme in seiner Unterhose. Da haben die Beamten den Mann mit dem schütteren Kinnbart schon zwei Tage im Visier, sie haben ihn gefilmt und fotografiert und zwei seiner Kunden geschnappt. Als der dritte kommt, ein 16-Jähriger, der für zehn Euro ein Gramm kauft, klicken die Handschellen.
Richtig verstanden hat Abdoulaye T. nicht, was seitdem mit ihm passiert. Mit erloschenen Augen sitzt er hinter seinem Tisch, während Verteidigerin Sabine Fabian beim Staatsanwalt vorfühlt, was der über eine Bewährungsstrafe denkt. Richter Peter Weber zeigt drei Finger hoch. Drei Taten, 13 Gramm zusammen. Mamadou übersetzt. „Sie müssen nicht aussagen“, erläutert Weber. „Aber wenn Sie es tun, wäre das gut für Sie.“ 16 Zeugen könnten ausgeladen werden, die Sache wäre vom Tisch. Abdoulaye T. nickt. Barry Mamadou übersetzt: „Er fragt, ob er seine Handys zurückbekommen kann.“
Ein Hauch Hoffnung, dann klicken die Handschellen
Es sind keine Großdealer, die hier sitzen, stumm und schüchtern, sondern die Ameisenhändler der Straßenszene, kleine Fische, die in diesen Wochen wie eine endlose Parade Gescheiterter in den Verhandlungssälen an der Thüringer Straße Platz nehmen. Fünf Tütchen oder drei, ein Gramm oder mal sieben wie im Fall von Moustapha D., der wie T. aus Guinea-Bissau stammt, 21 ist und Französisch spricht, wenn auch „bisschen schlecht“, wie Dolmetscherin Bärbel Loch sagt.
D. sitzt seit zwei Monaten in U-Haft, er wirkt, als würde er rätseln, was Verteidiger, Richter und Staatsanwältin verhandeln. Richter Weber, auch hier auf der Richterbank, versucht eine Erklärung. „Sie haben nächste Woche noch ein Verfahren“, sagt er. Deshalb werde der Sieben-Gramm-Prozess nun ausgesetzt. Ein Hauch Hoffnung huscht über das Gesicht von Moustapha D. „Er fragt, ob er jetzt frei sei“, übersetzt Bärbel Loch. Richter Weber schüttelt den Kopf. „In Ihrer anderen Anklage geht es um hundert Gramm“, sagt er. D. schaut traurig. Es sei Ramadan und am Freitag das große Fest. „Das muss ich außerhalb feiern.“ Dann klicken die Handschellen. Zurück in die Haftanstalt.
Dealer Abdoulaye T.: „Ich will doch in Deutschland eine Zukunft haben“
Es sind die Mühen der juristischen Ebene, durch die sich Richter, Staatsanwälte und Verteidiger hier täglich kämpfen. Und jeder Fall ist anders, auch wenn sie sich von weitem betrachtet so sehr ähneln wie die Gesichter der Angeklagten. Junge Männer, fremd in einer Fremde, in der sie auch nach Monaten nicht angekommen sind. Sprachkurs? Nein, hatte keiner. „Wozu haben Sie denn das Geld gebraucht?“, fragt ein Schöffe, dem Abdoulaye T. gerade gesagt hat, dass er nicht raucht, nicht trinkt und keine Drogen nimmt. Es gibt keine Antwort. Essen. Sachen. Dann war es immer weg.
Und vor der Tür der Markt, auf dem aus hundert Gramm tausend Euro werden. Zwei Jahresgehälter zu Hause. „Er ist mit Leuten in Kontakt gekommen, die gesagt haben, mach das doch“, erklärt Sabine Fabian. „Es war eine schlechte Gesellschaft“, sagt Bacadi D., der verspricht, nie wieder so einen Fehler zu machen. „Ich will doch in Deutschland eine Zukunft haben“, sagt er, ehe sein Urteil fällt. 14 Monate auf zwei Jahre zur Bewährung plus hundert Stunden Sozialarbeit. Aufatmen.
Auch Abdoulaya A. hat Glück, weil er schon zu acht Monaten Haft wegen des Ladendiebstahls verurteilt ist. Sein Anwalt zieht die Berufung dagegen zurück, dafür wird das BTM-Verfahren ausgesetzt. Fast-Namensvetter Abdoulaye T. hat am Mittwoch seinen Fortsetzungstermin. Das Gericht will dann sehen, ob er wirklich nicht erkennen konnte, dass sein letzter Kunde beinahe noch ein Kind war. Bei Moustapha D. beginnt nächste Woche der 100-Gramm-Prozess. Dem 21-Jährigen droht eine längere Haftstrafe.