Anti-Aggressionstraining für Schüler Anti-Aggressionstraining für Schüler: Sechstklässler toben sich in Halles Wutraum aus

Halle (Saale) - Lehrerin Ines Ottilie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Hinter ihr hat es gerade laut geknallt. „Oh Gott“, sagt die 55-Jährige. Sie dreht sich um und sieht zwei ihrer Schüler, wie sie gerade auf einen Drucker einschlagen. Den beiden macht es sichtlich Freude. „Wie geil“, ruft einer.
Für Lehrerin Ottilie gibt es jedoch keine Grund einzuschreiten, denn die Attacke ihrer Schüler findet nicht im Klassenzimmer in Teutschenthal (Saalekreis) statt. Die beiden Sechstklässler befinden sich im Wutraum in Halle. Das Zertrümmer-Zimmer wurde im August vergangenen Jahres von zwei Jungunternehmern gegründet. Es ist gefüllt mit alten Möbeln und Elektroschrott. Kurz und klein schlagen ist hier ausdrücklich erwünscht.
Bisher war diese Form des Aggressions-Abbaus allerdings Erwachsenen vorbehalten. Dass Frau Ottilies sechste Klasse der Sekundarschule Teutschenthal nun hier wütet, ist eine Neuheit. Die Idee dazu kam allerdings nicht von den Wutraum-Gründern, sondern von Cindy Schröder. Ihre Tochter geht in die Klasse von Ottilie. Schröder ist Vorsitzende des Elternrates. „Ich habe einen Beitrag über den Wutraum in der Zeitung gelesen“, erzählt Schröder. „Danach dachte ich: Da müssen wir auch hin.“
Wer gelernt hat, Gefühle im Zaum zu halten, macht nichts mutwillig kaputt. Nicht Computer, Telefone und Fernseher. Auch Tassen, Regale und Sofas schlägt man eigentlich nicht kurz und klein, weil man gerade Lust dazu hat. Der Baseballschläger liegt schwer in der Hand. „Die Hemmschwelle fällt nach ein paar Schlägen“, erklärt Mersch.
Also durchatmen, ausholen und Bäng! Eine Tasse zersplittert. Bäng! Der zweite Becher in Scherben. Die Schläge auf die Computertastatur sind schon sicherer. Schwarze Tastenteile wirbeln durch die Luft, wenig später hat der Schreibtisch eine Delle.
Das macht Spaß - und doch wieder nicht. „Die Hemmschwelle bedeutet, dass man soziale Kompetenzen hat, dass man gelernt hat, Sachen wertzuschätzen“, sagt der Lübecker Psychologe Laszlo A. Pota. „Eine Überwindung und Zerstörung von Sachen, die andere geschaffen haben, ist eine Grenzüberschreitung sich selbst, aber auch anderen gegenüber.“
Trotzdem weiter - wer will schon aufgeben? Mit einem ohrenbetäubenden Rumms saust der Hammer auf den Schreibtisch, immer wieder. Das Holz splittert, es ächzt und kracht, bis das schwarze Möbelstück zusammenbricht. Der Hammer wiegt schwer, in den Armen zieht es schon ein bisschen. Und da ist ein Gedanke: Sicher gibt es Menschen, die sich über die ausrangierten Möbel freuen würden, die vor allem aus Wohnungsauflösungen stammen.
Doch Martina Kreis von der Inneren Mission München beruhigt: „Es herrscht ein unglaubliches Angebot“, sagt die Leiterin der Gesellschaft Diakonia Secondhand in München. „Eiche rustikal kann ruhig zerschlagen werden, das bringen wir auch zur Entsorgung.“ Alten Trödel braucht keiner mehr. „Auch Menschen mit kleinem Geldbeutel sollten sich bei uns ein Möbelstück kaufen können, das wirklich schön ist.“
Allerdings: Da sind diese Sammeltassen. Kitschig. Aber vielleicht Lieblingsstücke eines alten Ehepaares, das daraus immer seinen Morgenkaffee trank? Und die nun, nachdem beide tot sind, als Ramsch der Zerstörung preisgegeben sind. Respekt oder übertriebene Sentimentalität?
Angeblich kommt irgendwann der Rausch - der Drang, alles kurz und klein zu hacken, befeuert von passender Musikdröhnung und vielleicht manchen Gedanken: an Arbeit, Kollegen, untreue Geliebte oder verständnislose Ehepartner. „Man hat auf jeden Fall eine Adrenalinausschüttung. Ich würde es vergleichen mit anderen verrückten Sachen wie Bungee-Jumping oder Fallschirmspringen“, meint Mersch. „Man ist da wirklich in einem Rauschzustand und hat danach ein Glücksgefühl.“
Rauschzustand: ja. Eine Arbeit mit eigentümlichem Reiz, die man zu Ende bringen will. Unter den Schuhen knirschen Glasscherben, Nägel ragen aus den Resten von Brettern, feiner Staub wabert in der Luft. Erschreckend, wie leicht Zerstören geht, auch wenn immer mehr Muskeln zu spüren sind. Mach die Möbel fertig!
Stress im Alltag, laut Mersch ein Hauptgrund, warum Kunden für 139 Euro bei ihm buchen. „Jeder kennt's, da hängt der Kopierer wieder, Papierstau. Und dann kann man endlich das Ganze bereinigen, auf andere Art.“ Ganz nach dem Motto: Gib's dem Computer - und denk dabei an die nervige Steuererklärung.
Der Wutraum als Zuflucht für gestresste Manager. Bei Mersch buchen auffällig viele Frauen. Der „Rageroom“ in Budapest hat sogar ein eigenes Paket im Programm: Angry Housewife - wütende Hausfrau. Für knapp 15 Euro Porzellan zerdeppern wie im Film. Oder „Schlechte Party“: ungehemmt austoben zwischen Flaschen und Gläsern. Ob das echt Stress besiegt und friedlicher stimmt?
„Die alte Katharsis-Hypothese, die besagt, Menschen könnten Aggression durch Ausleben von Aggression mindern, stimmt schon lange nicht mehr“, meint der Wutforscher Andreas Zick von der Universität Bielefeld. Da ist er sich mit Pota einig, der viel mit aggressiven Jugendlichen gearbeitet hat.
„Gewalt ist immer ein Zeichen von Hilflosigkeit“, sagt Pota. „Ärger und Wut machen krank, verursachen Stress.“ Wer zuschlage und sich danach gut fühle, mache das möglicherweise immer wieder - womöglich außerhalb des Wutraums, im normalen Leben. Sein Tipp: Ärger nicht runterschlucken, sondern nach Ursachen suchen und Lösungen finden.
Ob zerstören also glücklich macht? Vielleicht die Männer und Frauen, die hier Junggesellenabschied feiern. Zwei schlagen los, die anderen sitzen mit Drinks an der Bar und verfolgen das Spektakel auf zwei Monitoren. Und was ist mit denen, die von der Liebe träumen und das Paket „Erstes Date“ buchen? Romantisches Abendessen bei Kerzenschein und dann: „Sendepause und ihr legt so richtig los“, heißt es auf der Internetseite. Loslegen womit? Nicht mit zarter Annäherung, sondern mit der Keule.
Gemeinsames Zerstören verbindet, glaubt Mersch. „In Extremsituationen ist ja bewiesen, dass man sich da eher aneinander ranschmeißt.“ Das sei kreativer, als immer wieder der gleiche Italiener, findet der 35-Jährige aus der Oberpfalz, der sich selbst als friedfertig beschreibt. Doch egal, ob Spaßparty, Liebestreff oder Einzel-Zerstörungsorgie: Für Mersch und seine Mitarbeiter fängt die Arbeit danach erst richtig an: Gut zwei Stunden dauert es, bis sie das Chaos beseitigt und ein Zimmer wieder neu eingeräumt haben.