MZ-Serie zum Anschlag von Halle - Teil 5 Mit Video: Halles OB Wiegand - „Man kann den Terror nicht ungeschehen machen“
Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand hat am Anschlagstag den Einsatzstab der Stadt koordiniert. Wie er den Nervenkrieg erlebt hat und warum er zur Wachsamkeit mahnt.
Halle (Saale)/MZ - Katastrophen treffen eine Stadt zumeist unvorbereitet. Natürlich gibt es für jedes Szenario im Ratshof Einsatzpläne. Aber auch für einen Terrorakt wie am 9. Oktober 2019?
Anschlag in Halle 2019: OB Wiegand koordinierte Krisenstab am 9. Oktober
„Die Abläufe beginnen immer gleich. Rettungsdienste und Feuerwehren werden alarmiert, Bereitstellungsräume geschaffen, Krisenstäbe gebildet“, sagt Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos). Und es gehe darum, „kühlen Kopf zu bewahren, wenn drumherum das Chaos ausbricht“.
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An jenem grauenhaften Mittwoch sind die Nerven im Ratshof und bei der Polizei bis zum Zerreißen gespannt. Über Stunden jagt eine Horror-Meldung die nächste. „Und dabei hat man nur einen Gedanken: Die Menschen der Stadt zu schützen“, sagt der 66-Jährige.
Der OB hat das Geschehen minuziös dokumentiert – vom ersten Anruf 12:03 Uhr aus der Synagoge auf dem Notruf 112 bis 18:08 Uhr, als die Gefahrenlage aufgehoben wird. Dazwischen hetzen Stadtgesellschaft und Einsatzkräfte durch einen Tag, an dem sich Ereignisse überschlagen, Fake-News das wahre Geschehen über Stunden pulverisieren.
Fake News zum Terror-Anschlag am 9. Oktober 2019 in Halle
Da werden Schüsse aus der Radeweller Straße und eine Geiselnahme bei Edeka in der Uhlandstraße gemeldet, als der Attentäter schon gefasst war. „Zeugen wollen zudem eine schwarz gekleidete Person mit einem Maschinengewehr auf einem Balkon gesehen haben. Daraufhin wurden mehrere Wohnhäuser evakuiert. Es war ein Fehlalarm“, erinnert sich Wiegand.
Von bis zu drei Tätern ist anfangs die Rede. Viele wollen etwas gesehen haben. Alleine in der Leitstelle der Feuerwehr und am Bürgertelefon der Stadt gehen 3.000 Anrufe ein. „Wir haben mit jedem gesprochen, sind allen Hinweisen und Notrufen nachgegangen.“
Halles Oberbürgermeister Wiegand: „Man kann den Terror nicht ungeschehen machen“
Kinder werden in Sicherheit gebracht, die angrenzenden Häuser an den Tatorten in der Humboldt- und in der Ludwig-Wucherer-Straße mehrfach nach Verletzten abgesucht. „Ich hatte einen Schalter umgelegt und bin dadurch innerlich ruhiger geworden“, sagt Wiegand.
Es gab nur einen Gedanken: Die Menschen zu schützen.
Bernd Wiegand
Erst später am Abend, als klar ist, dass keine Gefahr mehr für Halle besteht, hat auch ein bis in die letzte Faser strukturierter Mensch wie der OB gegen die Emotionen keine Chance. „Die Bilder am Ort des Geschehens werde ich nicht vergessen. Alle Straßen waren menschenleer. Halle ist eine Geisterstadt gewesen.“
Als er vor der Synagoge die gezeichneten Umrisse von Jana Lange sah, das erste Opfer des rechtsradikalen Täters, sei es ihm eiskalt den Rücken heruntergelaufen. „Und wie beim Hochwasser 2013 hatte ich das Gefühl, machtlos zu sein, wenn außergewöhnliche Ereignisse über die Stadt hereinbrechen.“
Man habe im Einsatzstab zwar die Logistik koordiniert, aufgeräumt und versucht, Schlimmeres zu verhindern. „Aber den schrecklichen Terrorakt konnten wir nicht ungeschehen machen. Keiner kann das“, sagt Wiegand.
Nach Anschlag in Halle 2019: Antisemitismus und Radikalismus weiter vorhanden
Halle hätte es schlimmer treffen können. „So furchtbar es war, aber der Täter wollte ein Blutbad anrichten.“ Dennoch werde eine Narbe in der Stadt bleiben. Eine Stadt, die nach Wiegands Erfahrungen näher an die jüdische Gemeinde herangerückt ist. „Auch ich habe nach dem Anschlag mehr Veranstaltungen in der Synagoge besucht. Es ist wichtig, dass wir nicht wegschauen und nicht gleichgültig sind“, sagt er.
Antisemitismus und Radikalismus seien nach wie vor vorhanden. „Man muss den Menschen auch sagen, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht gibt.“ Terror wie am 9. Oktober könne sich immer wiederholen. Überall. „Deshalb war der Angriff eine Attacke auf alle Städte, nicht nur auf Halle.“ Einzeltäter dürfe man zudem nicht verharmlosen.
Stattdessen müsse man tun, was Datenschützer verbieten. Das Umfeld von verdächtigen Personen auch anlasslos überwachen. „Das ist ein Schluss, der sich aus dem Verbrechen von Halle ziehen lässt.“
Das Gedenken am 9. Oktober wird Bernd Wiegand nicht in seiner Funktion als OB begleiten. Wegen eines laufenden Disziplinarverfahrens ist er seit April 2021 suspendiert.
MZ-Serie: Der 9. Oktober 2019 und seine Folgen
Vor vier Jahren richtete ein rechtsextremer Täter aus Judenhass in Halle und dem Saalekreis ein Blutbad an, bei dem zwei Menschen starben. In einer elfteiligen Serie der MZ und des Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa) lässt die MZ bis zum 7. Oktober Zeitzeugen zu Wort kommen. Ob und wie hat der Anschlag die Stadt verändert?
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Mit großen Bodenaufklebern wird die Serie begleitet. Vier sind bereits zu finden: an der Synagoge, am Tekiez in der Ludwig-Wucherer-Straße, am Steintor und am Hauptbahnhof. Auf die Aufkleber ist ein QR-Code gedruckt.
Passanten, die ihn mit dem Handy scannen, sehen kurze Videos, in denen die Zeitzeugen ihre Erlebnisse am und um den 9. Oktober schildern. Der Aufkleber zum fünften Teil wird Freitag auf dem Riebeckplatz aufgebracht. Pro Tag kommt ein weiterer hinzu, auch Merseburg wird für den Entenplan einen Bodenaufkleber erhalten.
Im sechsten Teil der Serie erinnern sich Weggefährten an das Anschlagsopfer Jana Lange.