MZ-Serie zum Anschlag von Halle - Teil 9 Mit Video: Angst nach Terror - „Es gibt nicht nur Judenhass“
Die Muslimin Rasha Alomar macht der Anschlag in Halle 2019 noch heute betroffen. Feindseligkeiten bekommt sie selbst zu spüren. Wo die Lehrerin die Probleme sieht.
Halle (Saale)/MZ - Rasha Alomar trägt zwar Kopftuch, doch das schwarze Haar ist dennoch zu sehen. Dieses kleine Detail verrät viel über die sympathische, kluge junge Frau. Sie zeigt sich neugierig und ist freundlich. Andere sind es allerdings nicht.
Menschen in Halle, die die 34-Jährige nicht kennen und nur wegen ihrer Herkunft anfeinden. Da sind Autofahrer, die die Seitenscheiben herunterlassen und die Pädagogin grundlos beschimpfen. In der Straßenbahn wurde sie schon umgestoßen, ihr Bruder von vier Männern verprügelt.
„Es gibt in Deutschland und in Halle nicht nur Judenhass. Die Ablehnung gegen Ausländer spüre ich jeden Tag. Und ich habe das Gefühl, dass das politische System die Menschen dorthin treibt.“
Anschlag in Halle 2019: Muslimische Lehrerin von Terror am 9. Oktober betroffen
Dass Muslime und Juden Feinde seien, „mag in Palästina und Israel so sein, aber nicht hier“, sagt sie. Viele ihrer Freunde seien Juden. Deutsche auch. Der Glaube spiele keine Rolle, wenn man tolerant sei, meint sie. Deshalb macht sie der Anschlag vom 9. Oktober auch betroffen – bis heute hat sich das nicht geändert. „Ich traue mich seitdem abends alleine nicht mehr aus dem Haus. Denn der Hass kann auch mich und meine Familie treffen.“
Vor vier Jahren war Rasha Alomar einkaufen, ihre Kinder spielten zum Geburtstag einer Freundin auf einem Spielplatz. Die Syrerin war seinerzeit an einer Berufsschule in Halle in der Ausbildung zur Erzieherin. 2016 war sie nach Deutschland gekommen. In der Heimat hatte sie Lehramt studiert. „Man hat zwar meine Zeugnisse anerkannt, als Lehrerin durfte ich damals dennoch nicht arbeiten.“
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Familie flüchtete vor Krieg in Syrien nach Deutschland
Plötzlich meldeten sich Schüler voller Angst im Klassenchat. In Halle werde geschossen. Wer könne, solle zu Hause bleiben. „Ich habe im Internet das Video vom Täter gesehen. Das hat mich an Syrien erinnern. An das schreckliche Leben im Krieg. Davor sind wir geflüchtet.“ Ihr erster Gedanke? Die Kinder! Sind sie in Sicherheit?
Den Einkauf habe sie stehenlassen, sei zur Bahn gerannt. Bis zum Bahnhof sei die Tram noch gefahren, dann stand alles still. „Eine Freundin hat meine Kinder mit zu sich nach Hause genommen. Das war in dem Moment die wichtigste Botschaft.“
Seitdem quälen sie Gedanken. Ist Halle die richtige neue Heimat? Will die Gesellschaft hier überhaupt, dass sich andere Kulturen integrieren? „Vor Halle war ich in einer anderen Stadt. Dort habe ich es nicht so schlimm empfunden. In Halle ist die Feindseligkeit anderen gegenüber größer.“
Alltagsrassismus in Halle spürbar
Eine Abneigung, die sie auch in Ämtern wie der Ausländerbehörde spüre. „Meine Kollegin ist Deutsche. Wenn wir ein Problem haben, ruft sie in der Stadtverwaltung an, weil man dort anders mit ihr umgeht als mit einer Frau, die nur gebrochen deutsch spricht.“ Dabei bemühe man sich sehr wohl, Kontakte zu knüpfen.
In der Kita bietet Rasha Alomar mit einer Bekannten ein Sprachfrühstück für Frauen an, die aus dem arabischen Raum nach Halle gekommen sind. „Sie wollen wissen, wie man mit einem Arzt spricht oder einfach nur verstehen, was auf den Elternabenden ihrer Kinder in Kitas und Schulen erzählt wird.“ Dabei sei das Problem hausgemacht, sagt sie. Flüchtlinge und Migranten in Neustadt zu isolieren, sei der falsche Weg.
„Wenn in einer Schulklasse in Neustadt der Migrationsanteil bei 90 Prozent liegt, kann eine Integration nicht gelingen.“ Und es stimme auch nicht, dass Ausländer nur nach Deutschland kämen, um hier auf Kosten des Sozialstaats abzukassieren. „Ich kenne viele Familien, in denen die Eltern arbeiten. Nur dürfen sie trotzdem nicht aus Neustadt in andere Stadtteile ziehen. Ich verstehe das nicht.“
Nicht auf Vorurteile hören
Rasha Alomar wünscht sich, dass sich die Hallenser ihr eigenes Bild machen, statt auf Vorurteile zu hören. Probleme wie die Jugendkriminalität in Halle, die aktuell nach MZ-Informationen zu knapp 60 Prozent auf das Konto von Kindern und jungen Menschen mit Migrationshintergrund entfallen soll, dürfe nicht dazu führen, dass man alle Ausländer unter Generalverdacht stelle.
Angesprochen auf ihre persönliche Situation kann die Muslimin aber auch lächeln. Ihre Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt. Jetzt arbeitet sie als Lehrerin in der Grundschule an der Kastanienallee. Vielleicht bleibt sie mit ihren Kindern ja doch in Halle. „Ich habe viele Freunde, möchte aber nicht, dass meine Kinder in Angst und Zorn aufwachsen“, sagt sie.
Neulich sei ihr Sohn traurig nach der Schule nach Hause gekommen. Andere Schüler hätten zu ihm gesagt, er solle dorthin zurück, von wo er hergekommen sei. „Auch wenn das im Spaß war, verletzten solche Sätze.“
MZ-Serie: Der 9. Oktober 2019 und seine Folgen
Vor vier Jahren richtete ein rechtsextremer Täter aus Judenhass in Halle und dem Saalekreis ein Blutbad an, bei dem zwei Menschen starben. In einer elfteiligen Serie der MZ und des Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa) lässt die MZ bis zum 7. Oktober Zeitzeugen zu Wort kommen. Ob und wie hat der Anschlag die Stadt verändert?
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Mit großen Bodenaufklebern wird die Serie begleitet. Acht sind in der Innenstadt bereits zu finden: an der Synagoge, am Tekiez in der Ludwig-Wucherer-Straße, am Steintor, am Hauptbahnhof, auf dem Riebeckplatz, dem oberen Boulevard, vor der Ulrichskirche sowie am Leuna-Chemie-Stadion und am Entenplan in Merseburg.
Auf die Aufkleber ist ein QR-Code gedruckt. Passanten, die ihn mit dem Handy scannen, sehen kurze Videos, in denen die Zeitzeugen ihre Erlebnisse am und um den 9. Oktober schildern. Der Aufkleber zum neunten Teil wird in der Großen Ulrichstraße kurz vor dem Markt platziert.
Im zehnten Teil geht es um die Polizei und ihren Umgang mit Fake-News wie am 9. Oktober.