MZ-Serie zum Anschlag von Halle - Teil 8 Mit Video: Vier Jahre nach dem Terror - Niemals ohne Kevin
Am 9. Oktober 2019 hielt auch Merseburg den Atem an. Die schweren Stunden der Eltern des 20-jährigen, und woran sich Freunde wie Sven Küster erinnern.
Merseburg/Halle (Saale)/MZ - Bei jedem Heimspiel des HFC steht Karsten Lissau im halleschen Stadion am Gedenkort für seinen Sohn. Jedes Mal bringt er eine Blume für Kevin mit. Der junge Merseburger, der am 9. Oktober 2019 im Kiez-Döner auf der „Luwu“ in Halle erschossen wurde, ist gerade mal 20 Jahre alt geworden. Und es vergeht sicher kein Tag, an dem sich Karsten Lissau nicht fragt, wie der Tod seinen Sohnes hätte verhindert werden können.
Anschlag in Halle 2019: Kevins Handy bewegte sich plötzlich nicht
Kevins Mutter und er waren zum Zeitpunkt des Anschlags zwar schon seit Jahren getrennt, dennoch sorgten sich beide gleichermaßen um ihren Jungen. Als Kevin, der geistig eingeschränkt war und eine Lernbehindertenschule besucht hatte, an diesem Tag plötzlich nicht mehr erreichbar war, meldete sich Kevins Mutter gegen 12.30 Uhr bei Kevins Vater und erzählte, dass sich das Handy von Kevin seit kurz vor zwölf nicht mehr bewegt habe.
Anrufe bei Kevins Ausbildungsfirma liefen ins Leere. Selbst ein Verwandter bei der Bundespolizei in Halle ging nicht ans Telefon. Aus Verzweiflung machten beide Eltern eine Vermisstenanzeige bei der Polizei. Lissau, der damals in Wuppertal lebte, und Kevins Mutter hatten zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung, was in Halle vorgefallen war.
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Gegen 18 Uhr dann spielte Karsten Lissau jemand ein Video zu, in dem er sah, wie sein Sohn in einem Döner-Imbiss in Halle um sein Leben bettelt. „Bis dahin wussten wir nichts.“ Erst gegen 22.30 Uhr habe die Polizei an seiner Tür geklingelt. „Fünf, sechs Polizisten, Notarzt, Rettungssanitäter und zwei Seelsorger“, hatte Lissau in einem früheren Interview erzählt. Zu dieser Zeit wurde auch Kevins Mutter informiert.
Opfer stirbt bei Anschlag am 9. Oktober - Kevins Freund: „Ich wollte es nicht glauben“
Sven Küster (47) aus Merseburg erinnert sich noch genau an den 9. Oktober. „Ich hab’ damals alles verfolgt.“ Irgendwann habe es schließlich Katastrophenalarm gegeben. „Da musste ich zum Feuerwehrtechnischen Zentrum in Blösien fahren, denn ich bin Ersthelfer beim DRK.“
Später habe er dann die Videos des Täters im Netz gesehen. „Ich hab’ mir das zigtausend Mal angeguckt – weil ich nicht glauben wollte, dass es Kevin ist. Aber dann schrieb man schon: ,Ruhe in Frieden, Kevin!’ Da war es mir dann klar.“
Küster kannte Kevin aus dem Stadion und von den Auswärtsspielen des HFC. „Wir haben damals immer auf ihn aufgepasst, so wie wir alle aufeinander aufpassen“, erzählt der Merseburger, der an der Uniklinik Halle als innerbetrieblicher Krankentransporteur arbeitet und nicht nur HFC-Fan, sondern auch Feuerwehrmann ist.
Vor jedem Heimspiel habe sich das Kleeblatt aus Kevin, zwei weiteren Freunden und ihm selbst am Bahnhof der Domstadt getroffen und sei gemeinsam zum Spiel nach Halle gefahren. „Wir haben im Stadion zusammen die Hymne gesungen, haben gehofft, dass der HFC gewinnt und sind im Anschluss gemeinsam wieder nach Hause gefahren“, erinnert sich Küster.
Anschlagsopfer begeisterter HFC-Fan
„Und jeder kannte Kevin. Wir reden heute noch viel von ihm. Und den Schal mit Kevins Foto trage ich bei jedem Spiel.“ Den Gedenkschal hatte Kevins Vater damals in einer Auflage von 200 Stück anfertigen lassen. Zunächst war der Verkaufserlös dafür gedacht gewesen, den Grabstein für Kevins Grab zu finanzieren. Am Ende hat die Bundesregierung alle Kosten übernommen.
2016 war Kevin zum ersten Mal bei einem Spiel des HFC im Stadion. „Das hat sein Leben verändert“, sagt sein Vater Karsten Lissau, der seit Jahren wieder in Merseburg lebt. Nach der ersten Halbzeit im Fanblock sei sein Sohn total kaputt gewesen. „Er hatte sich völlig verausgabt, aber er war glücklich. Es war für ihn wie eine neue Welt.“
HFC-Fans ehren Anschlagsopfer bei Beerdigung
Und die HFC-Fans von den Domfalken und von der Libertà Crew haben der Welt gezeigt, wie sie mit einem, der zu ihnen gehört, umgehen. Bei der Trauerfeier in der Merseburger Stadtkirche standen HFC-Fans neben dem Sarg, trugen ihn im Anschluss zum Wagen des Bestatters.
Auch Sven Küster gehörte zu den Sargträgern. Dann die geheime Fahrt mit Kevins Sarg zum Marathontor am Stadion in Halle, als nur eine Handvoll Leute und die Familie dabei waren. „Dort haben wir uns mit Bengalos von Kevin verabschiedet.“
Küster weiß das alles noch, als wäre es gestern gewesen und wie jedes Jahr wird er auch in diesem Jahr Blumen auf Kevins Grab legen. „Manchmal waren es drei Rosen – zwei weiße und eine rote. Manchmal haben wir auch zusammengelegt und einen Kranz machen lassen.“ So könnte es auch in diesem Jahr sein.
MZ-Serie: Der 9. Oktober und seine Folgen
Vor vier Jahren richtete ein rechtsextremer Täter aus Judenhass in Halle und dem Saalekreis ein Blutbad an, bei dem zwei Menschen starben. In einer elfteiligen Serie der MZ und des Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa) lässt die MZ bis zum 7. Oktober Zeitzeugen zu Wort kommen. Ob und wie hat der Anschlag die Stadt verändert?
- Wunde, die nie heilt: Zeitzeugen sprechen über Terror am 9. Oktober in Halle
- Mit Video: Todesangst in Synagoge am 9. Oktober 2019 - „Als es knallte, blieb die Zeit stehen“
- Mit Video: Rabbinerin war in der Synagoge - „Ich gebe dem Täter keine Plattform“
- Mit Video: Lisa Ebert wohnt an der Synagoge - „Ich hätte das Opfer sein können“
- Mit Video: 90 Sekunden reichen - Leipzigerin schafft Gedenkkultur auf Tiktok
- Mit Video: Halles OB Wiegand - „Man kann den Terror nicht ungeschehen machen“
- Mit Video: Anschlagsopfer Jana - „Sie hatte ein reines Herz“
- Mit Video: Antisemitismus noch da - „Was haben wir falsch gemacht?“
Mit großen Bodenaufklebern wird die Serie begleitet. Sieben sind in der Innenstadt bereits zu finden: an der Synagoge, am Tekiez in der Ludwig-Wucherer-Straße, am Steintor, am Hauptbahnhof, auf dem Riebeckplatz, dem oberen Boulevard und vor der Ulrichskriche. Auf die Aufkleber ist ein QR-Code gedruckt.
Passanten, die ihn mit dem Handy scannen, sehen kurze Videos, in denen die Zeitzeugen ihre Erlebnisse am und um den 9. Oktober schildern. Der Aufkleber zum achten Teil wird am Entenplan in Merseburg und vor dem Leuna-Chemie-Stadion platziert.
Im neunten Teil geht es um die Lehrerin Rasha Alomar.