MZ-Serie zum Anschlag von Halle Mit Video: Todesangst in Synagoge am 9. Oktober 2019 - „Als es knallte, blieb die Zeit stehen“
Ein Rechtsextremist will unter Juden ein Blutbad anrichten. In Halle spielen sich daraufhin dramatische Szenen ab. Wie Zeitzeugen das Attentat erlebt haben.
Halle (Saale)/MZ - Auch traumatische Tage beginnen unschuldig. Für die meisten Hallenser ist der 9. Oktober 2019 ein beliebiger Mittwoch. Dass 51 Juden in der Synagoge im Paulusviertel am Versöhnungstag Jom Kippur beten, entzieht sich der öffentlichen Wahrnehmung ebenso wie der Spatenstich für die Kita in der Dürerstraße. Beide Orte trennen nur wenige Hundert Meter. Als Reporter bin ich mittendrin.
Plötzlich klingelt auf der Kita-Baustelle das Handy von Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos). Er stürzt los. Was ist passiert? „Da läuft einer durch Halle und erschießt Menschen“, ruft er mir zu.
Anschlag in Halle: Polizisten sind nervös
Die Stadt weiß in diesem Moment, um die Mittagszeit, noch nichts von den Wunden, die der Attentäter hinterlässt. An der Synagoge fallen Schüsse, später in der Ludwig-Wucherer-Straße. Wenige Minuten später bin ich als erster Journalist am Wasserturm Nord. Dass der Terrorist ein Blutbad in der Synagoge anrichten wollte, ist noch unklar.
Junge Polizisten sind am Tatort und sichtlich nervös. Auf der Straße liegt die Leiche von Jana L., notdürftig bedeckt mit einem Tuch. Ich helfe den Polizisten, ein Absperrband zu ziehen. In diesem Moment spielt es keine Rolle, wer hier zur Staatsmacht gehört und wer nicht. Gefühlt dauert es eine Ewigkeit, bis weitere Polizeikräfte an der Synagoge eintreffen.
Halle ahnt jetzt auch, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. In sozialen Netzwerken explodieren die Nachrichten. Das Video vom Täter macht die Runde. Alles wirkt surreal wie im Kino. Ist das echt? Passiert das wirklich gerade? In der Synagoge wissen die Juden, dass ihr Leben am seidenen Faden hängt. „Als es knallte, blieb für mich die Zeit stehen. Wir haben den Angreifer über die Außenkamera gesehen. Er sah aus wie ein Terrorist aus einem Videospiel“, schildert ein Gemeindemitglied.
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In der Synagoge sind die Menschen bereit, um ihr Leben zu kämpfen. Die älteren Gottesdienstbesucher werden in den hinteren Teil des Gebäudes gebracht. Die Jüngeren nehmen sich Stühle und verbarrikadieren den Eingang. Zwei Türen trennen sie von dem Täter. „Bricht er die erste Tür auf, gelingt es ihm vielleicht, in die Synagoge zu kommen. Dann hätte es eine Katastrophe geben können“, sagt Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde.
Anschlag von Halle: Großeinsatz und Fake-News
Halle befindet sich nun im Ausnahmezustand. Sirenen heulen. Gepanzerte Polizeifahrzeuge rasen durch die Stadt. Hubschrauber kreisen über dem Viertel. Und auch immer mehr Journalisten und Fernsehteams treffen ein. Das Unheil wird zum medialen Großereignis. Ausländische TV-Sender und Zeitungen rufen an, wollen Live-Berichte von den Tatorten. Die Polizei sagt in diesem Moment nichts mehr.
Dafür jagt eine Meldung die andere – was wahr ist und was nicht, lässt sich nicht sagen. Mehrere Täter sollen in einem Supermarkt in der Merseburger Straße um sich schießen. Im Uniklinikum seien weitere schwer verletzte Opfer eingeliefert werden. Es gebe weitere Tote. „Erst am Abend haben wir gewusst, dass es nur ein Täter war“, sagt Wiegand. Der Terrorist Stephan B. war zwischen Weißenfels und Zeitz von Polizisten gestellt worden.
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In der Synagoge harren die Gläubigen nun schon seit Stunden aus. Einige der Juden sind deutlich über 80 Jahre alt, haben als Kinder die Reichspogromnacht am 9. November 1938 miterlebt, als am Großen Berlin in Halle die Synagoge brannte. Sie haben die Nazis überlebt. Und jetzt? Einsatzkräfte klettern mit Leitern über die Friedhofsmauer an der Synagoge und suchen nach Sprengsätzen. Der Tatort ist mittlerweile hermetisch abgeriegelt, ebenso der zweite Anschlagsort, der Kiez-Döner in der „LuWu“.
Irgendwann fahren Busse vor. Die Menschen kommen aus der Synagoge und werden an einen sicheren Ort gebracht. Ein älterer Mann schaut aus dem Fenster, als der Bus langsam los rollt. Er hebt die Hand, grüßt mit einem leichten Lächeln herüber. So als wolle er anderen Trost spenden. Trost, den er doch selbst braucht.
MZ-Serie: Der 9. Oktober 2019 in Halle und seine Folgen
Vor vier Jahren richtete ein rechtsextremer Täter aus Judenhass in Halle und dem Saalekreis ein Blutbad an, bei dem zwei Menschen starben. In einer elfteiligen Serie bis zum 7. Oktober lässt die MZ Zeitzeugen zu Wort kommen - unterstützt vom Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (Lamsa). Ob und wie hat der Anschlag die Stadt verändert?
Mit großen Bodenaufklebern wird die Serie begleitet. Sie sind im Stadtgebiet zu finden: an der Synagoge, in der Ludwig-Wucherer-Straße, am Bahnhof, dem Steintor, auf dem Riebeckplatz, in der Leipziger Straße, rund um den Marktplatz und in Merseburg am Entenplan. Auf die Aufkleber ist ein QR-Code gedruckt.
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Passanten, die ihn mit dem Handy scannen, sehen kurze Videos, in denen die Zeitzeugen ihre Erlebnisse am und und um den 9. Oktober in Halle schildern. Der erste Aufkleber ist an der Synagoge. Pro Tag kommt jeweils ein weiterer hinzu.
Im zweiten Teil geht es um die Rabbinerin Rebecca Blady, die zur Anschlagszeit in der Synagoge war.