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Vor 100 Jahren  Vor 100 Jahren : Explosion in Zschornewitz

Von Sabine Wesner 19.06.2017, 09:25
Fast alle Dächer in der erst kürzlich errichteten Kolonie wurden abgedeckt. Fenster und Türen zerbarsten durch den enormen Druck der Explosion.
Fast alle Dächer in der erst kürzlich errichteten Kolonie wurden abgedeckt. Fenster und Türen zerbarsten durch den enormen Druck der Explosion. Privat

Zschornewitz - Es war eine der schlimmsten Katastrophen in der Industriegeschichte der Region, die sich vor genau 100 Jahren in Zschornewitz ereignete.

„Unmittelbar neben dem Kraftwerk Zschornewitz flog das damals neue Nitrumwerk in die Luft. Hier gab es 24 Tote, im Kraftwerk zwei und auch viele Verletzte. Die Zerstörungen hatten für den Ort ein gigantisches Ausmaß. Das Land befand sich damals mitten im Ersten Weltkrieg und sehr wahrscheinlich produzierte auch das Nitrumwerk für militärische Zwecke“, erzählt Gräfenhainichens Stadtarchivar Peter Pätz von einer Tragödie, die heute fast vergessen ist.

„Mit dem 17. und dem 18. Juni 1917 gibt es zwar zwei unterschiedliche Angaben zum Tag des Unglücks, aber Dank zweier Augenzeugenberichte sind uns doch sehr detaillierte Informationen über die Katastrophe erhalten geblieben“, sagt Pätz und verweist auf das anlässlich der Weltausstellung Expo 2000 herausgegebene Buch der Gemeinde Zschornewitz über die Ortsgeschichte.

Augenzeuge berichtet

Einer, der damals das schreckliche Geschehen miterlebte, war Karl Schöley, 1. Schrägbandmaschinist in Zschornewitz und angestellt in besagtem Nitrumwerk: „Im Frühjahr, am 17. Juni 1917, abends um 20.45 Uhr kam nun die unglückliche Zeit für unser früher so ruhiges Dörfchen.

Das Nitrumwerk Zschornewitz, von dem laut Stadtarchivar Peter Pätz heute kaum Aufzeichnungen und nicht mal ein einziges Foto existieren, wurde nicht wieder aufgebaut. Hier wurde nur ein Jahr später mit dem Bau der Elektroschmelze GmbH begonnen. Der große Explosionstrichter, dicht an der Kolonie und dem alten Dorf, wurde später mit Abraum verfüllt. „Genau an der Stelle entstand das Ofenhaus I der Elektroschmelze, das alle Wirren überstand und erst 1998 außer Dienst gestellt wurde. Heute stehen hier Solaranlagen“, so Peter Pätz. Auch das Werk überdauerte. Ob als VEB, Treibacher Schleifmittel, Surfatec oder jetzt als Imerys Fused Minerals Zschornewitz GmbH - im Volksmund bleibt es wohl immer die Elektroschmelze. 

Als ich noch am 17. Juni abends eine Dreiviertelstunde vor der Katastrophe mit Herrn Direktor Brink, auf dem vierten Stockwerk des gewaltigen Säureturms über die Verbesserung der Abfüllstation und der Mischanlage Besprechungen hatte, wer hätte uns da sagen können, dass in wenigen Minuten dieses gewaltige Werk in Schutt und Asche liegen könnte.

So war nun ein Werk deutscher Technik und deutschen Erfindergeistes in einem Augenblick in einen Trümmerhaufen verwandelt worden. Weinende Frauen und Kinder warteten vor den Toren des Werkes auf ihren Ernährer und Vater. Viele Kilometer weit umherliegende Holz- und Eisenteile, umgeworfene Säurewaggons, abgedeckte Dächer und zerbrochene Fensterscheiben legten Zeugnis ab von dem gewaltigen Unglück.

Am nächsten Abend hatte ich Nachtwache in der Säureabteilung. Diese Nachtwachen waren für mich die grauenvollsten Nächte, welche ich jemals erlebt habe. Kein Licht, kein Weg und Steg. Alles war verschüttet, Leichen- und Säuregeruch lag über den Ruinen. Sechs Wochen lang mussten die Trümmerhaufen ruhen. Neun noch fehlende Leichen konnten inzwischen geborgen werden.

Nach Abschluss der Untersuchungen wurde mit den Aufräumungsarbeiten begonnen. Sämtliche Eisen mussten mit Hilfe von Sauerstoffapparaten zerschnitten werden. Die großen Fundamente des 99 Meter langen und 40 Meter breiten Maschinenhauses, wo die gewaltige Linde-Anlage arbeitete, wurden gesprengt.

Bei den Aufräumungsarbeiten fanden meist Mädchen und Frauen zwei volle Jahre lang Arbeit und Brot. Auch das benachbarte Kraftwerk wurde bei der Katastrophe in Mitleidenschaft gezogen. Sämtliche Kühltürme waren geknickt und abgedeckt. Auch zwei Beschäftigte im Kraftwerk fanden den Tod. Es war noch günstig, dass dieses Unglück abends geschah. Wäre es am Tag gewesen, so hätte es mindestens 500 Tote gegeben, da das Werk im Bau noch nicht beendet war.“

„Auch der damalige Zschornewitzer Pfarrer Schencke hat in seinem Buch ,Zschornewitz und Golpa im Wandel der Jahrhunderte´ die Katastrophe festgehalten“, so Peter Pätz. Dieser spricht aber vom 18. Juni, als ein Kühler und fünf Tonnen Toluol explodierten und einen 30 mal 80 Meter großen Krater hinterließen.

Die Erde bebte

Schencke schrieb: „In die Erde gräbt das furchtbare Element einen 15 Meter tiefen Trichter, schießt dann in mehreren Stößen Hunderte von Metern senkrecht empor. Einige Donnerschläge erfüllten die Luft so stark, dass die fünf Kilometer entfernten Gröberner dachten, der Schlag wäre unmittelbar über ihnen. Die Erde bebt, dass alle Häuser wanken. Der Luftdruck ist so stark, dass sämtliche Fenster und Türen herausgerissen und eine Unzahl an Dächern abgedeckt werden. Die Splitter des Fensterglases aus der Vorderfront des Pfarrhauses steckten in der fünf Meter entfernten Wand. Betonstücke von Hunderten Kilo, Eisenteile, Steine sausten durch die Luft.

Zunächst hieß es nur, rette sich wer kann! Die ganze Umgebung: Gräfenhainichen, Burgkemnitz, Pöplitz, Golpa füllte sich mit flüchtenden Menschen. Dann galt es, Erste Hilfe zu leisten. Die Zahl der Verwundeten war verhältnismäßig nicht so groß. Umso schlimmer erging es den Leuten, die gerade im Maschinenhaus Schicht hatten. Nur einer kam wie ein Wunder davon. Aber die anderen waren leider rettungslos verloren. Man konnte sie nur völlig entstellt und verbrannt aus den Trümmern hervor ziehen.

Noch in der Unglücksnacht erschien Hilfe - Ärzte und Militär aus Wittenberg. Das schwer in Mitleidenschaft gezogene Kraftwerk und die beschädigten Häuser konnten in den nächsten Monaten wieder aufgestellt werden. Das Nitrumwerk, die stattlichen Hallen und Einrichtungen waren für immer dahin.“

(mz)

Auch sämtliche Kühltürme des Kraftwerks Zschornewitz wurden zerstört.
Auch sämtliche Kühltürme des Kraftwerks Zschornewitz wurden zerstört.
Privat