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Transsexualität  Transsexualität: Jens aus Dessau ist jetzt Jenny

Von Alexander Schierholz 09.08.2016, 20:36
Jenny Bittner war bis vor einigen Jahren noch Jens Bittner.
Jenny Bittner war bis vor einigen Jahren noch Jens Bittner. Andreas Stedtler

Dessau - Es muss um die Wendezeit gewesen sein. Im Fernsehen lief ein Spielfilm, es ging um einen transsexuellen Tennisspieler. Jens Bittner, daheim in Dessau, schaltete ein. Und plötzlich wusste er, was los ist mit ihm. „Ich hatte einen Namen dafür. Und ich war nicht mehr allein.“ Mehr passierte zunächst noch nicht. Aber das war schon viel für einen Teenager, der schon lange das Gefühl hatte, dass er irgendwie anders ist als die anderen.

Mehr als 25 Jahre später ist aus dem Jungen von damals eine Frau geworden. Jens ist jetzt Jenny. Jenny Bittner, 44, trägt akkurate pinkfarbene künstliche Fingernägel zu T-Shirt mit Blumenmuster und Jeansrock. Ihre Wohnung ist penibel aufgeräumt. Auf dem Tisch liegt ein dicker Aktenordner, von dem noch zu reden sein wird.

Jenny Bittner ist eine Transsexuelle. Männer, die sich als Frauen fühlen. Frauen, die sich als Männer fühlen. Menschen, die das Gefühl haben, sie leben im falschen Körper.

Jenny Bittner sagt, sie habe dieses Gefühl schon als Kind gehabt, als sie noch Jens war, irgendwie. Wenn die Jungs kickten, spielte Jens lieber mit den Mädchen. Wenn die ihn nicht wollten, zog er sich zurück, immer öfter. Er schnappte sich einen Lötkolben und pfriemelte irgendwas zusammen. „Das war zwar auch nicht typisch weiblich, aber es war eine Flucht.“

Frauen denken anders

Und jetzt? Ist Jenny besser als Jens? Auf jeden Fall, sagt sie. Da ist ja nicht nur der Name, den sie amtlich erst seit März vorigen Jahres trägt. „Mein ganzes Lebensgefühl hat sich geändert.“ Jenny Bittner sagt, sie denke anders. Da ist etwa das Einkaufen. Jens Bittner ist früher durch den Supermarkt, gehetzt, Brot hier, Butter da, Wurst dort, ab in den Wagen damit, zur Kasse, fertig. Jenny Bittner lässt sich treiben, guckt hier, guckt dort.

Es ist ein langer Weg bis dorthin: Hormontherapie - ein unverzichtbarer Bestandteil auf dem Weg von einem Geschlecht zum anderen - Psychotherapie, Outing, eineinhalb Jahre „Leben in der angestrebten Geschlechterrolle“, wie es im Fachdeutsch der Gesundheitstechnokraten heißt. Das bedeutet: Sich nicht nur im stillen Kämmerlein als Frau anziehen, so wie sich das Kind Jens als Mädchen verkleidet hat, sondern in Frauenkleidung auf die Straße gehen, unter Menschen.

Eine Art Test für das neue Leben also. Klingt einfach, sei aber, sagt Jenny Bittner heute, eine enorme psychische Belastung. „Viele zerbrechen daran.“ Jenny, damals noch Jens, hält durch, obwohl er sich vor Scham manchmal wünscht, die Erde würde ihn verschlucken. Da ist der Tag, an dem er, fraulich gekleidet, im Treppenhaus auf seine Nachbarn trifft. Er hat sich damals schon geoutet in seinem Wohnblock, dennoch empfindet er die Begegnung als peinlich.

Kampf um Operationskosten dauert bereits zwei Jahre

Jenny Bittner ist noch längst nicht am Ziel. Sie wartet auf ihre geschlechtsangleichende Operation, erst danach wird sie auch biologisch eine Frau sein. Hier kommt der Aktenordner ins Spiel, er enthält Korrespondenz, Gutachten, Gerichtsbeschlüsse: Seit fast zwei Jahren streitet Bittner mit der AOK um die Übernahme der Operationskosten, es geht um rund 28.000 Euro. Bisher hat die Krankenkasse die Finanzierung abgelehnt; der Streit liegt vor Gericht.

Wenn Jenny Bittner von ihrer geschlechtlichen Orientierung redet, dann spricht sie manchmal von einer „Diagnose“. Klingt nach Krankheit, und genau das ist auch gemeint: Unter dem Kürzel F64.0 ist Transsexualität in der Internationalen Krankheitsklassifikation ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation vermerkt, im Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“, Unterkapitel „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“.

Kasse lehnt Kostenübernahme ab

Bittner sagt: Die Kasse weigere sich, Transsexualität als Erkrankung anzuerkennen, trotz der international gültigen Definition. Die Kasse sagt, sie habe die Kostenübernahme bisher abgelehnt, weil Bittner nicht alle Voraussetzungen erfüllt habe. Details nennt Sprecherin Anna-Kristina Mahler mit Blick auf das laufende Gerichtsverfahren nicht. Und der Vorwurf, die Krankheitsklassifikation zu missachten? Auch hier verweist Mahler auf das Gericht: „Ob Transsexualität eine Krankheit ist oder nicht, müssen andere entscheiden.“

Jenny Bittner lebt von Hartz IV. Ihren Job im Kundendienst eines Elektronik-Fachmarkts verliert sie, nachdem sie sich geoutet hat. Von da an wird alles anders: Ihr Chef, erzählt sie, habe plötzlich ihre Arbeit in Frage gestellt, ihre Entscheidungsgewalt schwindet. Am Ende steht die Kündigung. Dutzende Bewerbungen hat sie seitdem geschrieben, erfolglos. Man rät ihr, sie solle doch lieber in ein anderes Bundesland ziehen, in dem ihre geschlechtliche Orientierung eher toleriert werde.

Transsexuelle wie sie erfahren vielfältige Diskriminierungen. Einen Überblick zu gewinnen, ist schwierig. „Die Dunkelziffer ist sicher hoch“, sagt Tobias Engel, Berater beim Lesben- und Schwulenverband in Magdeburg. Viele Diskriminierungen würden aber gar nicht als solche wahrgenommen. „Wenn Sie jemand als ,schwule Sau’ beschimpft“, sagt Engel, „dann könnten Sie den ja anzeigen.“ Viele machten das aber nicht, weil sie mit einer solchen Situation klar kämen. So komme vieles gar nicht zur Sprache.

Ein langer Weg vom Mann zur Frau

Im Alltag, wenigstens da, fühlt Jenny Bittner sich aufgehoben. Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn - „in diesen Kreisen habe ich nach meinem Outing keine negativen Erfahrungen gemacht“. Ihre Tochter ist sechs, als sie Ende 2013 erfährt, dass Papa lieber eine Frau sein möchte. Das Mädchen reagiert, wie es typisch ist für Kinder - unbefangen: „Okay Papa, dann will ich dich schminken!“

Jenny Bitter sagt, sie lebe jetzt das Leben, „das ich schon immer gefühlt habe“ - sogar mit Familienanschluss: Ihre Tochter lebt abwechselnd bei ihr und bei der Mutter. Dennoch hat Bittner sich in Leipzig einer Selbsthilfegruppe angeschlossen.

Psychotherapie ist der Beginn

Als Jenny noch Jens ist und es lange noch sein wird, Ende der 80er Jahre, ist an Hilfe und Beistand nicht zu denken. Er macht weiter wie bisher, auch nach dem Film über den transsexuellen Sportler, der sein Schlüsselerlebnis geworden ist. Was hätte er auch tun sollen? Einmal versucht er, mit seinen Eltern darüber zu reden, „das ging total vor den Baum“.

Also weiter: Lehre als Lagerfacharbeiter, Beziehung, eigene Familie, Beruf, Umschulungen. Doch der Druck wird immer größer, der Wunsch, aus dem falschen Körper auszubrechen, immer stärker. 1998 verfolgt Jens Bittner gebannt die Geschichte von Michaela Lindner, die als Norbert Lindner das Amt als Bürgermeister von Quellendorf bei Köthen antritt und nach ihrem Outing als Transsexuelle per Abwahl davongejagt wird.

Er recherchiert im Internet, meldet sich in Foren an. „Je mehr Informationen ich zusammengetragen habe, desto klarer war mir, dass ich diesen Schritt gehen muss.“ Den Schritt vom Mann zur Frau.

Am Anfang steht eine Psychotherapie. In seinem Leipziger Psychologen findet Bittner jemanden, der ihm zuhört. Eine der ersten Fragen, die der Arzt ihm stellt, lautet: „Wie wollen Sie als Frau denn heißen?“ So beginnt der lange Weg von Jens zu Jenny.

Sie kramt in dem dicken Aktenordner, zieht ein Schreiben des Amtsgerichts Halle hervor, datiert vom 18. März 2015: „Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin als dem weiblichen Geschlecht zugehörig anzusehen ist. Die Antragstellerin trägt anstelle ihres bisherigen Vornamens künftig den Vornamen ,Jenny’“

So können ein paar banale Zeilen eine Revolution ausdrücken. (mz)

An ihr Leben als Mann erinnert heute nur noch der Personalausweis.
An ihr Leben als Mann erinnert heute nur noch der Personalausweis.
Andreas Stedtler