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Den besten Freund verloren Schicksalsschlag in Roßlau: Ein Zugunglück löschte 1967 eine ganze Familie aus

Von Lisa Garn 06.07.2017, 12:30
Die Bergungsarbeiten nach dem Zugunglück in Langenweddingen.
Die Bergungsarbeiten nach dem Zugunglück in Langenweddingen. Archiv/dpa

Roßlau/Dessau - Diesen Moment erlebt er heute noch in Echtzeit: An einem schönen Sommertag im Juli klingelte Helmut von Nordheim bei Familie Sturm. Er wollte Herbert abholen, seinen besten Freund. Doch es öffnet niemand.

Die Minuten vergehen, der 13-Jährige überlegt, ob er sich im Tag geirrt hat. Dann kommt eine ältere Dame aus dem Haus herunter und spricht die Sätze, die auch 50 Jahre später noch Gänsehaut verursachen: Die Sturms aus Roßlau sind tot, eine ganze Familie - ausgelöscht bei einem der schwersten Zugunglücke Deutschlands.

94 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben

Am 6. Juli 1967 stieß an einem Bahnübergang bei Langenweddingen ein Zug mit einem Minol-Benzinlaster zusammen. Es kam sofort zur Explosion. 94 Menschen kamen ums Leben, darunter 44 Kinder. Familie Sturm war damals auf dem Weg in ein Ferienlager im Harz: Die Eltern Erika und Kurt, der 14-jährige Herbert und der elfjährige Hartmut.

„Ich konnte erst gar nicht verarbeiten, was mir die Frau aus dem Haus sagte“, erinnert sich Helmut von Nordheim. „Ich habe es gehört, aber nicht begriffen. Erst, als ich es meinen Eltern zu Hause erzählte, verstand ich, was da passiert ist.“ Der Verlust bewegt den inzwischen 63-Jährigen, wenn er darüber spricht.

„Ich kannte Herbert seit der Einschulung, wir haben so viel zusammen gemacht. Ich frage mich schon, wie sich mein Leben entwickelt hätte, wenn er noch da wäre.“ Helmut von Nordheim wohnte damals in der Nähe, beide gingen in die gleiche Klasse, die 7d an der Oberschule I in Roßlau.

Fast hätte Helmut von Nordheim selbst im Unglückszug gesessen

„Wir waren beide ruhiger. Deshalb haben wir uns zusammen getan. Zusammen waren wir eben stark.“ Sie haben gespielt, Hausaufgaben gemacht, sind Rollschuh gefahren, blieben zum Abendbrot beim jeweils anderen. Vor dem Ferienlager fragte Herbert, ob Helmut nicht mitkommen will.

„Es war noch ein Platz frei. Aber mein Vater entschied sich dagegen. Sonst hätte ich auch in dem Zug gesessen.“ Eine Woche sollte es ins Ferienlager gehen, für danach hatten sich die beiden zum Baden verabredet. Doch von Nordheim klingelte vergebens. Er hatte seinen wichtigen Begleiter verloren.

Die Katastrophe auf der Strecke nach Thale hatte sich kurz nach dem Start in Magdeburg ereignet. Ein Schrankenarm am Bahnhof Langenweddingen verfing sich in einem Postkabel, das sich wegen der Hitze verformt hat. Seit zwei Tagen schon berührt die Schranke das Kabel - verhakt hatte sie sich bisher nie. Der 63-jährige Schrankenwärter versuchte, die Schranke durch Kurbeln zu befreien.

Doch der Bahnübergang blieb geöffnet. Der Fahrer eines Minol-Tanklasters fuhr los - und auf den Schienen näherte sich der Zug mit Tempo 85, ein Stopp-Signal hatte er nicht erhalten. Die Dampflok prallte gegen den Tanklaster, das Benzin setzte die Doppelstockwagen in Flammen. Rund 250 Reisende saßen im Zug, ganz vorn die Kinder.

Mit 13 das erste Mal mit dem Tod konfrontiert

Vieles geriet damals aus dem Lot. Wochenlang konnte sich Helmut von Nordheim in der Schule nicht konzentrieren, das Leben wurde zum ersten Mal schwer. „Ich war noch nie mit dem Tod konfrontiert. Jemand, der mir sehr nah war, war nicht mehr da. Das ist schwer zu verarbeiten.“ Die Leistungen wurden schwächer. „Meine Eltern und die Schule haben sich aber sehr liebevoll um mich bemüht. Ich habe mich wieder gefangen.“

Helmut von Nordheim war bei der Beerdigung am 11. Juli auf dem Friedhof I in Roßlau dabei, unter anderem mit Lehrerschaft und Schülern. In der Traueranzeige schrieben die hinterbliebenen Eltern: „Ein tragisches Geschick hat uns alle Hoffnungen genommen“ schreiben sie. Und von den beiden Kindern als „hoffnungsvolle, fleißige, immer hilfsbereite Lieblinge“.

Auch die Schule nimmt tief erschüttert Abschied mit einem Text in der Tagespresse. „Ihre Einsatzbereitschaft werden wir uns stets zum Vorbild nehmen. Beiden Schülern, die mitten aus ihrer Lernarbeit gerissen wurden, werden wir ein ehrendes Gedenken bewahren.“ Das will auch von Nordheim.

Eine Narbe in der Seele ist geblieben

In einem grünen Hefter hat er Erinnerungen gesammelt: Bilder der Familie, die Berichte über das Unglück, Beileidsbekundungen in der Zeitung. Damals bekam er aus der Auflösung der Wohnung in der Poetschstraße 21 ein paar Fotos, Kleidungsstücke seines Freundes.

„Die habe ich auch abgetragen. Für mich war das noch mal wie ein bisschen Abschied nehmen können.“ Von Nordheim wohnt inzwischen in Dessau, ist Vater zweier Kinder. Hat Kfz-Schlosser gelernt, als Schlosser gearbeitet, war selbstständig und auf Montage in ganz Deutschland. Seit kurzem ist er im Ruhestand.

Eine Narbe in der Seele ist geblieben, wenn von Nordheim an seinen besten Freund Herbert Sturm denkt. Einen engen Begleiter hat er zwar immer mal wieder gefunden - aber Fragen stellt er sich noch manchmal. „Was wäre gewesen, wenn .... ? Wir hätten zusammen Reisen unternehmen können, mit der Familie und den Kindern. Vielleicht wäre es eine lebenslange Freundschaft gewesen.“

Jedes Jahr legt von Nordheim am Todestag seines Freundes Blumen am Grab in Roßlau ab. Er wünscht sich, dass die Pflege der Grabstelle von der Stadt übernommen wird. „Um ein würdiges Gedenken an die Familie zu bewahren. Das gehört sich so.“ (mz)

Die Familie: Hartmut, Erika, Herbert und Kurt Sturm.
Die Familie: Hartmut, Erika, Herbert und Kurt Sturm.
privat
Der Grabstein der Familie Sturm in Roßlau.
Der Grabstein der Familie Sturm in Roßlau.
Lutz Sebastian