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Republikflucht aus Liebe Republikflucht aus Liebe: Dessauer endet im Stasi-Knast - zunächst

Von Heidi Thiemann 23.04.2018, 09:36
Endstation Grenze: Michael Ogertschnig wurde bei seinem Fluchtversuch 1973 aus dem Kofferraum geholt.
Endstation Grenze: Michael Ogertschnig wurde bei seinem Fluchtversuch 1973 aus dem Kofferraum geholt. Privat

Dessau/Marienborn - An der ehemaligen innerdeutschen Grenze war Schluss. Der Dessauer Michael Ogertschnig wurde 1973 bei seinem Versuch, aus der DDR zu seiner Verlobten Rina nach Holland zu flüchten, aus dem Kofferraum eines Opel Olympia Rekord mit Westberliner Kennzeichen geholt. 45 Jahre sind die dramatischen Stunden und folgenden bangen Wochen und Monate her.

Dessauer berichtet erstmals in der Gedenkstätte Deutsche Teilung von misslungener Flucht aus der DDR

1975 wurde Michael Ogertschnig freigekauft, lebt seitdem in Holland. Zum ersten Mal wird der ehemalige Dessauer mit seiner Frau Rina in Deutschland über das Schicksal berichten. Beide sind am 24. April zu Gast beim länderübergreifenden Schülerprojekttag in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn.

„Der Projekttag bringt 260 Schüler aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen zusammen. Er findet zum 9. Mal statt“, sagt Gedenkstättenleiterin Susan Baumgartl. Die jungen Menschen kommen aus Helmstedt, Rühen, Wolfsburg-Vorsfelde, Ausleben, Magdeburg und auch Dessau. „Die Teilnahme einer Schule aus Dessau und von Herrn Ogertschnig ist eine schöne Fügung“, findet Baumgartl.

Dessauer Sekundarschule „Am Schillerpark“ nutzt den lebendigen Geschichtsunterricht

Doch ob die 42 Mädchen und Jungen der Sekundarschule „Am Schillerpark“ auch auf Ogertschnigs treffen werden? Lehrerin Astrid Sanow ist gespannt. Im vergangenen Jahr schon hatte sie sich um die Teilnahme beworben, „denn das ist lebendiger Geschichtsunterricht“. In diesem Jahr nun hat es geklappt. Mit acht Schülern war sie bereits in Marienborn. Diese durchliefen dort eine Guide-Ausbildung. Das bedeutet: „Sie werden an dem Projekttag andere Schüler führen“, sagt Sanow.

Die jungen Leute würden in sieben verschiedene Gruppen aufgeteilt, denn es gibt mehrere Zeitzeugengespräche. Da geht es um Friedensaktivisten in Ost und West, um Oppositionskontakte in Polen und der DDR, um Fluchtversuche über osteuropäische Grenzen und auch um (heimliche) Verbindungen durch den „Eisernen Vorhang“.

Republikflucht aus Liebe – Staatssicherheit kannte Michael Ogertschnigs Pläne

Auch Rina und Michael Ogertschnig hatten solch eine Verbindung geführt. Sie lernten sich 1965 in Dessau kennen. Michaels Vater Paul, der im Schwabehaus eine Schuhmacherwerkstatt hatte, lernte im Zweiten Weltkrieg eine holländische Bauernfamilie kennen. Der Kontakt riss nie ab, die Holländer kamen regelmäßig zu Besuch - und eines Tages kam auch Rina mit.

Auch wenn es anfangs mit der Sprache holperte, die beiden jungen Leute hatten sich schon früh füreinander entscheiden. Gemeinsam planten sie die Republikflucht des Orthopädieschuhmachers. Die kläglich scheiterte, denn die Staatssicherheit wusste über die Pläne bescheid. Michael Ogertschnig wurde entdeckt, kam in den Stasi-Knast. 1975 erlangte er die Freiheit. Er ist einer von 33 755 politischen Häftlingen, die zwischen 1962 und 1989 von der BRD freigekauft wurden.

Niederländische Journalistin Margriet Brandsma hat ein Buch über das Schicksal des Ehepaars Ogertschnig geschrieben

Über das Schicksal des Ehepaars hat die in den Niederlanden bekannte Journalistin Margriet Brandsma ein Buch geschrieben. Dieses war 2014 erschienen. Es auch ins Deutsche zu übersetzen, sei leider nicht so leicht umzusetzen, gibt Michael Ogertschnig zu. Weshalb er sich nun besonders auf das Zusammentreffen mit den deutschen und insbesondere Dessauer Schülern freut.

Nicht nur über ihre Geschichte werden der gebürtige Dessauer und seine Frau dann erzählen, „auch über Fakten der Trennung zwischen Ost und West, die politischen- und ökonomischen Unterschiede im geteilten Deutschland. Zu guter Letzt auch über den Schmerz und die Sehnsucht, die nicht wenige Menschen ertragen mussten, und die Repressionen in der damaligen Zeit“.

Den Grenzübergang Marienborn kennen beide nur zu gut. „Mit Spiegeln wurde unter den Wagen geguckt, ob sich etwas darunter befindet“, erinnert sich Rina Ogertschnig. Auch die Fahrt von der West- zur Ostseite durchs Niemandsland bis zur Grenzstelle beschreibt sie als beklemmend. „Man durfte nur Schritttempo fahren, keine Fotos machen. Man sah, dass man von Beobachtungstürmen aus beobachtet wurde. Man bekam Angst, irgendwas falsch zu machen.“ (mz)

Der Projekttag „Aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen“ in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn bietet Schülern aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen die Möglichkeit, sich mit dem historischen Ort, dem Grenzregime der DDR, dem Ost-West-Konflikt und damit verbundenen Fragen nach Staat, Ideologie, Diktatur, Freiheit, Überwachung und Flucht zu beschäftigen. Am größten und wichtigsten DDR-Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze können sie die historischen Anlagen erkunden und im Gespräch mit Zeitzeugen erfahren, wie sich „große“ Geschichte in persönlichen Lebensgeschichten widerspiegelt. Begleitet wird der Tag vom Kultus- beziehungsweise Bildungsministerium der Länder.

Das Buch beschreibt die Lebensgeschichte.
Das Buch beschreibt die Lebensgeschichte.
Privat
Rina und Michael Ogertschnig bei einem Besuch in Dessau.
Rina und Michael Ogertschnig bei einem Besuch in Dessau.
Thomas Ruttke