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Raus aus dem Heim, rein ins Leben

Von Stefanie Hommers 05.10.2004, 16:31

Zerbst./MZ. - Persönliche Assistenz heißt das Modell, das Rainer Jastrow ermöglicht, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne den festgelegten Rhythmus eines Alltags im Heim. Den hat der Mann, der an progressiver Muskeldystrophie leidet, zur Genüge kennen gelernt. 18 Jahre lang wurde er - nach dem Tod der Mutter - in einem Altenpflegeheim betreut - und hat immer davon geträumt, anders zu leben. "Solche Heime sind wichtige Einrichtungen, aber für einen jungen Menschen ist das wirklich nicht das Wahre", formuliert er vorsichtig sein Unbehagen, "man ist dort keine Persönlichkeit."

Als Rainer Jastrow 1999 zum ersten Mal von der Möglichkeit einer ambulanten Betreuung in den eigenen vier Wänden hörte, war er elektrisiert, zog Erkundigungen ein und stellte schließlich ein halbes Jahr später seinen ersten Antrag auf persönliche Assistenz beim Sozialamt. Auf eine Ablehnung war er vorbereitet, denn die Kosten für eine Rundum-Betreuung daheim sind höher als bei einer Heimunterbringung. Unbeeindruckt legte er Widerspruch ein. Doch erst nach einem zweijährigen Rechtsstreit konnte Rainer Jastrow den Traum von einem selbst bestimmten Leben verwirklichen. "Wenn ich einmal angefangen habe, für etwas zu kämpfen, gebe ich nicht so schnell auf. Da muss man auch Niederlagen einstecken können", beschreibt er sein Durchhaltevermögen. Ohne den Rückhalt von Freunden, auch das betont er, wäre es ihm aber nicht gelungen, sein Ziel zu erreichen.

"Ich habe vier Arbeitsplätze geschaffen", beschreibt der Zerbster selbstbewusst seinen Weg in die Unabhängigkeit. Spontan einer Einladung zum Essen bei Freunden zu folgen, ohne Wochen im Voraus planen zu müssen, schlafen zu gehen, wenn man müde ist und nicht, wenn der reglementierte Tagesablauf eines Heimes es vorsieht, all das ist jetzt möglich. Dank eines Teams von vier persönlichen Assistentinnen, die abwechselnd für ihn da sind und bei all den Dingen helfen, die Rainer Jastrow nicht alleine tun kann. Ausgesucht und geschult hat er die vier Frauen selbst. "Ich weiß doch schließlich am besten, was ich brauche, das steht doch in keinem Lehrbuch. Und wenn man zwölf Stunden am Tag beisammen ist, muss natürlich auch die Chemie stimmen."

Eine der Assistentinnen ist Nadine Paul, gelernte Einzelhandelskauffrau. Wenn sie Bekannten von ihrer Arbeit erzählt, erntet sie häufig Erstaunen und irritierte Nachfragen. "Was machst du?" Am Anfang konnte sich die junge Frau selbst kaum vorstellen, den Job zu übernehmen. "Ich wusste ja auch nicht genau, was da auf mich zukommt." Erst bei der dritten Anfrage ist sie ins kalte Wasser gesprungen, hat die Arbeit übernommen, für die es zwar einen Arbeitsvertrag inclusive Sozialabgaben gibt, ein festes Berufsbild existiert jedoch nicht. Routiniert und mit Engagement bewältigt sie die Aufgabe inzwischen. "Ich habe diese Entscheidung nie bereut", beteuert sie energisch.

Als eine Melange zwischen Arbeitsverhältnis und Freundschaft, beschreibt Rainer Jastrow das Verhältnis zu den persönlichen Assistentinnen. Auch die Eltern der Mitarbeiterinnen kommen manchmal zu Besuch. "Die sind ein gut eingespieltes Kollektiv", freut er sich über den Zusammenhalt der Frauen, die mit ihrer Arbeit allesamt Neuland betreten und vorher zumeist keinen Kontakt zu Behinderten hatten. "Jetzt ist das ein Stück Normalität", so Nadine Paul.

"Die ersten Schritte waren auch für mich hart", bekennt Rainer Jastrow bei aller Euphorie. Sich seine Finanzen selbst einteilen, den Alltag gestalten, Entscheidungen treffen.... "So etwas verlernt man im Heim, wo vieles für einen entschieden wird." Aber der Zerbster würde immer wieder um genau dieses Leben kämpfen. "Frei ist vielleicht ein blödes und ein sehr großes Wort, aber ich fühle mich jetzt einfach wohler."