Fürs Aufhören fehlt die Zeit
Dessau/MZ. - Mit seinen 86 Jahren setzt der Schauspieler dann doch lieber auf ein sicheres Gefühl, wenn er in diesen Tagen gleich mehrmals auf der Bühne in der Marienkirche steht, wo das Anhaltische Theater "Das Tagebuch der Anne Frank" zeigt.
Erich Große spielt Harry Kraler, einen der Helfer Annes. Für Große ist es eine Rolle, die ihm bei der Premiere der Inszenierung von Karl Thiele 2000 mehr als vertraut war. Denn schon 1988 brachte Thiele das Stück auf die Bühne, und Erich Große spielte den Kraler. Wie oft er in der neueren Version in der Marienkirche vor allem vor Schulklassen zu sehen war, weiß Erich Große ganz genau. Denn morgen Vormittag gibt es dort um 10 Uhr die 100. Vorstellung und Große hat bei keiner zuvor gefehlt.
"Um mich herum wurden im Laufe der Jahre alle Rollen gewechselt. Ich bin immer noch dabei." Den Mimen macht das stolz, zumal er ohne sein Theater das Rentnerdasein sowieso nicht genießen könnte. "Ich spiele immer noch, weil ich es so gewohnt bin und es keinen Anlass gibt, abrupt damit aufzuhören", erzählt er. Von Zeit zu Zeit werde er gefordert, in dieser Spielzeit auch noch in "Happy End" und in "Der gute Mensch von Sezuan". Kleine Rollen sind es und doch so wichtig, weil sie Erich Große Gelegenheit geben, so wie schon in den letzten 50 Jahren mit seinen Kollegen von der Bühne zusammen zu sein.
Auch wenn Große nicht den Ehrgeiz hat "bis an den Grabesrand auf der Bühne zu stehen", so können es doch gut und gerne noch einige
Jahre sein. Denn wenn man so lange die berühmten Bretter betreten hat, fällt der Abschied davon nur allzu verständlich sehr schwer. Vom Anfang seiner Bühnenlaufbahn erzählt Erich Große gerne, denn die führt in eine Zeit, in die Theater eine durchaus andere Bedeutung hatte als heute. Große lacht über seinen Großvater, einen Kaufmann mit einem Seifengeschäft, der dieses ob seiner Obzession fürs Laientheater derart vernachlässigte, dass er Pleite ging. Er wurde Pförtner an der Semperoper. Dort sammelte sich Großes Familie. Die Mutter sang im Opernchor, der Cousin war Musiker, die Cousine Gewandmeisterin, der Onkel Chefrequisiteur.
"Als Kind bin ich immer mit Freikarten ins Theater gekommen", sagt der Schauspieler. "Ich bin ins Theater hinein gewachsen." Seinen Platz sah der junge Mann, als er 1947 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte und ein Studium an der Akademie für Musik und Theater in Dresden aufnahm, künftig auf der Opernbühne.
Ein Traum, der indes schnell der Erkenntnis wich, nie ein toller Sänger zu werden, schon gar nicht, als Peter Schreier kurz nach Erich Große an der Akademie das Studium aufnahm. Große entschied sich für jene Sparte, der er auch heute noch die Treue hält und die ihn gleich nach seinem ersten Engagement in Freiberg nach Dessau führte. "1951 kam ich in der völlig zerstörten Stadt an, sah dann diesen Prachtbau stehen und war tief beeindruckt", erinnert er. In Dessau wollte er bleiben, "denn ich bin kein Mensch, der aus dem Koffer lebt". Das musste Große auch nicht nachdem die Kinder da waren und es die schöne Wohnung am Bauhausplatz gab. In 200 Inszenierungen, schätzt er, hat er in den mehr als 50 Jahren am Dessauer Theater gespielt. Er hat noch die alten Hofschauspieler kennen gelernt und wundert sich heute über die vielen neuen Gesichter in der Kantine. "Ja, das Theater hat sich schon verändert", nickt Erich Große vielleicht ein wenig wehmütig. Sein Kraler im "Tagebuch der Anne Frank" ist freilich gleich geblieben. Auch morgen beim 100. Mal, ob nun mit oder ohne Stock.