Flüchtlinge in Dessau Flüchtlinge in Dessau: Hohe Erwartungen und zerplatze Träume

Dessau - Ticket? Ticket? Immer wieder fragten sie Anke Jahns danach. Immer wieder versuchte die Deutsch- und Englischlehrerin ihnen klar zu machen, dass sie keine Fahrkarte für ihren Weg zum Berufsschulzentrum bezahlt bekommen, wenn sie nicht mehr als drei Kilometer davon weg wohnen. „Was für unsere deutschen Schüler gilt, findet auch bei unseren Neuen Anwendung“, erläutert Jahns geltende Bestimmungen. Die „Neuen“ sind 40 junge Menschen, rund zwei Drittel Syrer, ein Drittel Afghanen und zwei Somalier, die sich am Berufsschulzentrum „Hugo Junkers“ in Dessau seit diesem Januar in drei Sprachklassen auf eine Berufsausbildung oder den Besuch einer weiterführenden Schule vorbereiten.
Umfangreiches Programm
20 Stunden pro Woche Deutschunterricht, vier Mathe- und zwei Sportstunden sowie vier Stunden Fachpraxis stehen auf dem Stundenplan der Flüchtlinge. Täglich besuchen sie die Schule im Dessauer Westen. In verschiedenen Stadtteilen sind die Flüchtlinge untergebracht. Wer weiter weg, als drei Kilometer wohnt, bekommt die Fahrkarte für Bus und Bahn bezahlt. Die anderen nicht.
Hohe Erwartungen an Deutschland
Lange hat das gedauert, bis sie es kapiert haben. Schnell ist ihnen damit noch ein bisschen klarer geworden, dass Deutschland auch nur ein ganz normales Land ist. „Ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere Flüchtlinge mit Erwartungen hierher gekommen sind, wie wir Deutschen sie vielleicht von Amerika im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten“, sagt Jahns. „Abitur machen, studieren, arbeiten, reich werden“, skizziert die Lehrerin die Bilder im Kopf, die viele in ihrer Sprachklasse von Deutschland haben. Germany. Deutschland. Das klang zurecht erst wie eine Verheißung. „Ein bisschen haben wir alle dazu beigetragen“, resümiert die Deutsch- und Englischlehrerin. Überschwängliche Willkommenskultur. Großzügige Spenden aus der Bevölkerung. Das Bemühen des Staates, die Angekommenen so gut wie möglich unterzubringen und zu versorgen, hat Erwartungshaltungen geweckt.
Viele müssen das Lernen erst wieder lernen
Umso heftiger ist der Kater danach, jetzt im längst eingekehrten Alltag. Nicht alles wird bezahlt. Große Pläne sind wie Seifenblasen zerplatzt. „Viele aus unseren Sprachklassen wollten gleich das Abitur machen“, erzählt Jahns. Doch die Schulausbildung in der alten Heimat reicht dafür oft nicht aus. Viele müssen das Lernen erst wieder lernen, weil sie durch den Krieg und die spätere Flucht schon seit Jahren keine Schulen mehr besucht haben. Auch die deutsche Sprache lernt sich schwerer als gedacht. Der Weg zur Fachkraft von morgen ist lang.
Erste Erfolge
Zwei „Erfolgserlebnisse“ können Jahns und ihre Kollegen, die in den Sprachklassen unterrichten, bisher verbuchen: Eine junge Syrerin strebt die Fachhochschulreife mit Schwerpunkt Wirtschaft an, möglicherweise mit einer Ehrenrunde, weil die Sprachbarriere noch oft den Lernerfolg verhindert. Ein junger Syrer, der selbstverständlich Abitur machen wollte, scheiterte in der Fachoberschule und versucht jetzt unter großen Mühen eine Ausbildung zum Physiotherapeuten über eine Einstiegsqualifizierung doch noch gebacken zu kriegen.
„Wir an der Basis werden mit den Problemen oft alleine gelassen“
Für den großen Rest sieht es derzeit noch düsterer aus. Wenn eine Verständigung klappt, denn oft fehlt es auch an Englischkenntnissen, dann hört Jahns auf die Frage nach der Vorstellung von der Zukunft erschreckend oft „keine Ahnung“. Nur mit intensiver Förderung kann verhindert werden, dass aus den jungen Menschen eine „verlorene Generation“ wird. Doch die Signale aus Politik und Verwaltung machen derzeit wenig Hoffnung. „Wir an der Basis werden mit den Problemen oft alleine gelassen“, konstatiert die Sprachenklassen-Lehrerin. Sie hat den Eindruck, als ob in den Amtsstuben die Flüchtlingskrise mit dem Rückgang der Zahlen erledigt sei.
Deutsch wird gebüffelt
Noch sind ihre Schützlinge motiviert, sich zu integrieren. In Sportvereinen hat Mancher schon Anschluss gefunden. Deutsch, so schwer es auch ist, wird gebüffelt. In einem oft ablehnenden Umfeld versuchen sie trotzdem Zugang zur hiesigen Gesellschaft zu finden. Nicht wenige Schüler und Lehrer sind den „Neuen“ gegenüber sehr kritisch eingestellt. Mit Kennenlern-Projekten konnten schon erste Barrieren abgebaut werden. Auch sonst versuchen Anke Jahns und ihre Kollegen Probleme ganz pragmatisch zu lösen. Wer keine Monatskarte für Bus und Bahn bezahlt kriegt, der fährt eben Fahrrad. In einer Werkstatt lernen die Flüchtlinge ausgemusterte und gespendete Drahtesel wieder flott zu kriegen, um auch ohne Bus und Bahn von A nach B zu kommen. (mz)