Exkursion Exkursion: Vogelpirsch zwischen Stadt und Aue
DESSAU/MZ. - Die Männer und Frauen haben nach dem Samstagsfrühstück die Taschen und Rucksäcke gepackt, sind ins warme Schuhwerk geschlüpft, haben Pudelmützen aufgestülpt, Schals und Handschuhe nicht vergessen und sind zum Parkplatz am Luisium gestapft: Aufmarsch zur Vogelpirsch.
Teilnehmer aus der Region
Sie kommen von nebenan aus Waldersee. Sie kommen aus der Stadt. Sie kommen aus der Region. Den weitesten Weg hat Dieter Beinlich genommen - aus Schönebeck, elbaufwärts mit "Abzweig" Mulde. "Mit dem Strom" hat es Günter Rast angetrieben... aus der Lutherstadt Wittenberg. Sie folgten dem Veranstaltungskalender 2010 vom Biosphärenreservat Mittelelbe zur ersten Veranstaltung im Februar: Das Reservat lädt ein zur Exkursion zwischen Stadtgebiet und Flussaue, um die Vogelwelt auf Futter- und Nahrungssuche zu beobachten. Geländetaugliches Schuhwerk und Fernglas sind empfohlen.
Ranger Günter Weißköppel, im Reservat im Sachgebiet Naturschutz beschäftigt, will mit den Interessenten unvergessliche Vogelbeobachtungen in der winterlichen Auenlandschaft machen. Die Strecke bleibt mit geschätzten zweieinhalb Kilometern durch Luisium zur Mulde übersichtlich. Zwei Stunden sind avisiert. Es werden drei.
Am Zugang zum Luisium zieht ein Taubenschwarm hoch oben über die neugierigen Spaziergänger. Ringeltaube, Hohltaube? Weißköppel hat den gurrenden Ruf in der klaren Winterluft als erster wahrgenommen. Zeit, die Ferngläser aufzuschrauben. Und den Kopf in den Nacken zu legen, um noch die letzten Schwanzspitzen des abdrehenden Geschwaders zu sehen. Die Tauben, mit über 300 Arten, seien eine eng verwandte Vogelfamilie und trotz aller Evolution und Züchtung zurückzuführen auf eine einzige Stammform: die Felsentaube. Die wiederum Aussehen und Habitus fast unverfälscht an die allseits bekannte Straßentaube vererbte.
Zum ersten Mal färbt hier in Weißköppels Rede der typische Wesenszug durch. Der Ranger und Naturwächter verknüpft die Beobachtung der Natur mit Begeisterung für deren Schöpfungen. "Sie machen das genau richtig. Draußen in der Natur erlebt man die Vogelwelt intensiver als im besten Film oder Buch." Der Funken springt über. Und hält die Vogelpirscher eng beisammen. Hier wird nicht getrödelt oder die Route abgekürzt. Man könnte was verpassen.
Im Notizblock der Artenzählung hat sich inzwischen auch der Feldsperling eintragen lassen. Im Geäst und Gezweig der unbelaubten Bäume entdecken die Expeditionsteilnehmen auch im tiefsten Februar einen Hauch von Grün. Weißköppel nimmt den Feldstecher vor die Augen: "Das sind Grünfinken." Ein scharfer, lauter Ruf zieht die Aufmerksamkeit zur Baumgruppe nebenan, wo ein farblich auffallenderer gefiederter Zeitgenosse ausgemacht wird. Der Kernbeißer sichert sich seinen Eintrag im Exkursions-Tagebuch. Und den Leuten eine neue Geschichte: Der gedrungene Kurzschwänzige ist einer der "Nahrungsspezialisten" und fällt zuerst auf durch seinen mächtigen Schnabel aus, erzählt Weißköppel. Der Kernbeißer entwickelt mit seinem Schnabel einen Druck bis zu fünfzig Kilopond und knackt damit problemlos Kirsch- und Pflaumenkerne, wenn gerade keine Körner zu finden sind. Über die staunenden Hobby-Ornithologen hinweg zieht während dessen ein beachtlicher Schwarm Zeisige auf Futtersuche. Das geübte Ohr des Rangers fängt den Ruf eines Kleibers ein. Fernglas auf! Bäume abgesucht! Der Exkursions-Gast aus Wittenberg hat den "Vogelblick" und als erster den Kletterkünstler im Okular. Der Kleiber ist eine besondere Art, klettert als einziger Singvögel mit dem Kopf voran die Baumstämme hinab. Der dafür vom Namen her eigentlich prädestiniert scheinende "Baumläufer" tippelt stur nur den Baumstamm hoch.
Kämpfe im Himmel
Schon auf dem Weg zum "Schlangenhaus" ist viel entdeckt. Dann freilich sorgen ein paar Funde am Wegesrand für Nachdenken: Wer hat da seine Federn gelassen? Und vor allem warum? Günter Weißköppel sammelt die schwarzen Strähnen ein. "Das ist keine Mauser. Das war ein Kampf." Verloren hat ihn aller Wahrscheinlichkeit nach ein Amsel-Männchen. Der Naturwächter erkennt an der Federform die Herkunft von der "Armschwinge". Ist da noch mehr? Ja da! Und dort! Die Männer und Frauen springen durch die Schneewehen wie aufgekratzte Kinder auf Pilzsuche. Und liefern ihre Funde ab. Schwanzgefieder kommt zusammen und die Handschwingen, schwarze Daunenfusseln auch. Das Leben in der Natur wird in jedem Augenblick geboren und gestorben, warnt Weißköppel, der die Vögel kennt und liebt, vor allzu großer "Vermenschlichung". Die natürlichen Feinde der Singvögel sind im Kulturland Katzen oder Marder, in der Landschaft immer auch Greifvögel und größere Arten. Gerade die Krähen stehen hierbei im brutalem Ruf. "Sie sind die geborenen Nahrungsopportunisten", nehmen sich das, was sie am leichtesten kriegen können", grinst Weißköppel. Der spricht von den Krähen nicht abfällig, nennt sie beim Oberbegriff "Rabenvögel" und weiß, dass sie auch sehr tapfer sein können, würden menschliche Maßstäbe in der Vogelwelt auch nur irgendetwas bedeuten. So bewacht beispielsweise die Nebelkrähe ihr Brutrevier aufs Schärfste gegenüber Eindringlingen. Genauso wie die Saatkrähe ihre "Kolonie" verteidigt. Ein einzelner Greifvogel hat wenig zu bestellen gegen einen in Formation anstürmenden Raben-Schwarm. Wie zur Demonstration können die Samstag-Spaziergänger über dem Luisium ein Duell in den Lüften beobachten. Den herangleitenden Habicht empfängt ein schriller Warnruf, und die pechschwarze Saatkrähe jagt heran und den Störenfried in die Flucht. Gekreisch im Himmel und anerkennendes Kopfnicken unten auf der Erde. Tapferes Kerlchen.
Hinter dem Schloss Luisium wartet ein nächstes Naturschauspiel. Ein Hämmern weist den Weg zu einer alten Eiche. Vermorscht und brüchig, ausgelaugt vom Heldbock, aber gerade deshalb so unvergleichlich köstliche Nahrungsquelle für den Specht. Hier frühstückt ein Schwarzspecht, der größte seiner Art. Die Holzspäne fliegen im Takt der scharfen Schnabelschläge. Der große Vogel lässt sich von den beobachtenden, zoomenden Erdlingen nicht beeindrucken und reckt sich zu stolzer Pose.
Ein paar Schritte weiter schleichen sich Hannelore Melzer und Stefanie Gerheim an eine kraftstrotzende Eiche. In deren Stamm haust seit Jahr und Tag eine Eule. Der Nachtschwärmer ruht am Tag, reagiert aber empfindlich auf die heranstampfende, schnatternde Menschenschar. "Ich habe nur noch einen grauen Schatten weghuschen sehen", bedauert Hannelore Melzer. Günter Weißköppel beäugt die Baumhöhle und mutmaßt dann, dass hier ein Waldkauz sein Domizil hat. "Nicht alle Eulen nämlich brüten in Höhlen, manche nutzen als 'Nachmieter' ein Krähennest vom Vorjahr."
Heißer Tee tut gut
Bevor es an die Bobachtung von Nestern geht und der Unterscheidung vom "Kobel", der Eichhörnchenunterkunft oder einem schlichten Mistelgewächs, wärmen sich Angelika Schödel und Birgit Kadura erst einmal auf mit heißem Tee. "Den haben wir immer dabei", lacht Birgit Kadura. Immer? Immer, wenn die Frauen mit marschieren bei geführten Wanderungen. Wie vor zwei Wochen bei der "Spurensuche im Schnee", die durch Törten führte und gleichfalls unter Weißköppels Leitung stand. "Das ist immer wieder ein Erlebnis und immer wieder schön", pusten die Frauen den dampfenden Tee auf genussfähige Temperatur.
Weiter führt der Marsch an die Mulde zur Wörlitzer Eisenbahnbrücke. Hier schwimmen Stockenten und Blässrallen, sind in der Ferne Zwergtaucher auszumachen. Aber keine Kormorane. Der "Vogel des Jahres 2009" nimmt sich eine Auszeit, hat vielleicht den Schnabel voll von der üblen Nachrede als gefräßiger Fischvertilger? "Ein Kormoran braucht täglich 500 Gramm Fisch. Einfach zum Überleben", zuckt Weißköppel die Achseln. Auf dem Rückweg schließlich tragen sich die entdeckten Arten Nr. 20 und 21 ins Tagebuch. Misteldrossel und "last but not least" der Haussperling. Klein, aber fein.
Ebenso schätzt Günter Beinlich die Exkursion ein. Der Schönebecker plant ein persönliches Themenjahr, nutzt zahlreiche Angebote der Umgebung. Bis auf die Spritkosten kostenfrei, aber so mannigfaltig. "Das ist meine Auszeit. Da kann ich am Samstag nach der Arbeit meinen Kopf richtig auslüften." Im übertragenen Sinn. Und Samstag auch im Wortsinne.