Englisch für Auswanderer
Dessau/MZ. - Ob es nun daran lag, dass der Chor der Versammelten nicht ganz unisono agierte oder ob das Stadtoberhaupt überhaupt nicht in seinem Amtszimmer war - an den Fenstern der Stadtverwaltung blieb alles still bei der Kundgebung, mit der die Ärzte des Dessauer Klinikums am Freitag ihren seit Montag andauernden Streik zur Durchsetzung eines Tarifvertrages im Sinne des Marburger Bundes und der Ärzte beendeten.
Dabei wäre Otto durchaus ein Ansprechpartner für die Mediziner gewesen - immerhin kann ein OB auch Einfluss - wie stark auch immer - auf den Kommunalen Arbeitgeberverband nehmen, der als Partner oder Gegenüber des Marburger Bundes am Verhandlungstisch sitzt. Abgesehen davon besteht bei einem endgültigen Scheitern der Tarifverhandlungen auch die Möglichkeit, dass man am Klinikum - eine der größten kommunalen Gesundheitseinrichtungen im Osten - zu einem Haustarifvertrag kommen könnte: Und da sitzt die Stadt mit im Boot.
Für die Ärzte scheint die Uhr fünf vor zwölf zu zeigen. Eine erkleckliche Anzahl von ihnen war mit Koffern in Dessaus Mitte gekommen, um damit zu signalisieren, dass man auf gepackten Koffern sitze. Angegeben waren die unterschiedlichsten Reiseziele: Schweden, Österreich, die Schweiz und vor allem England. Kein Wunder: Derzeit arbeiten auf der Insel fast 10 000 deutsche Ärzte, sagte Andrea Huth, Geschäftsführerin des Marburger Bundes in Sachsen-Anhalt. Viele Ärzte würden gern hier bleiben, "haben hier aber nicht die Arbeitsbedingungen, um bleiben zu können". Um sie im Lande halten zu können, "brauchen wir auch die Unterstützung der Stadt Dessau". Andrea Huth forderte OB Otto auf, darauf einzuwirken, dass sich der Kommunale Arbeitgeberverband Gedanken darüber macht, "wie man Ärzte im Osten halten kann durch einen vernünftigen Tarifvertrag".
Es ist nicht zuletzt die Schere zwischen Ost und West, die die Ärzte auf die Palme bringt: Nach 16 Jahren Einheit habe man in punkto Gehalt und Arbeitszeit noch lange keine Einheit, so Huth. Die Ausbildung der Ärzte im Osten sei aber genauso gut wie im Westen und die Versorgung der Patienten ebenso.
Für Auswanderwillige hatten sich die Organisatoren der Veranstaltung - an der spontan auch Vertreter der Dessauer Montagsdemo teilnahmen - eine öffentliche Lehrstunde in "medical english" ausgedacht.
Michaela Ranta, HNO-Fachärztin am Klinikum, die selbst jahrelang in englischen Kliniken tätig war, arbeitete mit ihren Kollegen, unterstützt von drei in Deutschland lebenden Engländern aus ihrem Bekanntenkreis, ein Pensum der medizinischen und allgemein-anatomischen Grundbegriffe ab. Was ihre Insel-Erfahrungen angeht, so weiß die Ärztin, dass es bei der Anwanderung von Ärzten ins Ausland nicht nur ums Geld geht, sondern ebenso um bessere Arbeitsbedingungen - für bürokratische Missliebigkeiten wird im Vereinigten Königreich weniger Arbeitszeit verwendet, auch die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes erfolge konsequenter.
Ab Montag wird im Dessauer Klinikum wieder der normale Dienstbetrieb aufgenommen. Dennoch: "Wir sind jederzeit wieder streikbereit", zeigt sich Dr. Steffen Hofmann, Sprecher des Marburger Bundes am Klinikum, kämpferisch. Für ihn wie für Andrea Huth war die Aktion in Dessau erfolgreich, auch wenn eine Klärung des Tarifproblems bislang nicht gelungen ist. Der Marburger Bund habe sich profilieren können und neue Mitglieder gewonnen, so Huth. Für Dr. Hofmann war es wichtig, "dass wir Kraft nach außen bewiesen haben". Die Hauptsache, ein politisches Zeichen zu setzen, sei gelungen. Der Zusammenhalt der Ärzte sei gestärkt worden.
Und man habe auch gelernt, wie man einen Streik so zu organisieren habe, dass die Patienten nicht zu stark darunter leiden müssten. Das kann man auch als Signal an die Verhandlungsführer verstehen: Für Dr. Hofmann ist jedenfalls klar, dass der Tarifvertrag durchgesetzt werden muss. Sonst werden einige Ärzte die Koffer irgendwann nicht mehr nur symbolisch packen.