Ein vergiftetes Erbe Ein vergiftetes Erbe: Als Bitterfeld-Wolfen die dreckigste Stadt Europas war

Bitterfeld-Wolfen - Der Silbersee schimmert heute blau. In Ufernähe schwimmt gemächlich ein Haubentaucher. Auch Rothalstaucher und Stockenten hat Manfred Richter gesichtet. Der Hobby-Ornithologe aus Bitterfeld-Wolfen verfolgt seit Jahren die Entwicklung der Population. In dem abgezäunten Gelände haben die Tiere Ruhe zum Brüten.
Der Silbersee, der eigentlich Grube Johannes heißt, war in der DDR ein großes, stickendes, giftiges Schlammloch. Er gilt als Symbol für Umweltverschmutzung in der DDR und speziell in Bitterfeld. Die Abfallgrube steht aber auch dafür, wie aufwändig und langwierig die Beseitigung der Altlasten ist - doch die Mühe lohnt sich.
1988 gelang es einer Gruppe von Umweltaktivisten um den Bitterfelder Hans Zimmermann, die katastrophale Situation in der Region geheim zu filmen, das ARD-Magazin „Kontraste“ veröffentlichte das Material. Die Bilder der Grube Johannes sorgten in West wie Ost für Furore. In den von Wohngebieten umgebenen ehemaligen Tagebau leitete die Filmfabrik Wolfen jahrzehntelang faserstoffhaltige Abwässer ein.
„Die Umweltsünden konnten wir sehen, riechen und schmecken“
Es bildete sich ein von toten Bäumen umringtes Schlammloch. Bei der Zersetzung der Faserstoffe wird unablässig giftiger Schwefelwasserstoff gebildet. Das Gas riecht nach faulen Eiern. „Die Umweltsünden konnten wir sehen, riechen und schmecken“, sagt Richter, der heute ehrenamtlicher Kreisvorsitzender des Naturschutzbundes (Nabu) ist. „Doch irgendwie hatten wir uns damals auch daran gewöhnt.“
Nach 1990 wurde ein Teil der Grube mit Rindenmulch-Säcken abgedeckt. Über den größten Teil wurde ein Netz mit Matten gelegt. Darüber hat sich eine etwa ein Meter tiefe Wasserfläche gebildet. Der Gestank ging so weg. „Der Schlamm ist ohne Behandlung aber auch in 100 Jahren noch aktiv“, sagt Harald Rötschke, technischer Geschäftsführer der MDSE Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft.
Das landeseigene Unternehmen ist für die Beseitigung von Altlasten zuständig. Es gibt wohl kaum jemanden in Sachsen-Anhalt, der einen besseren Überblick über das giftige Erbe in Bitterfeld-Wolfen hat als Rötschke.
Von der Braunkohle- und Chemieindustrie wurden Luft, Wasser und Boden kontaminiert. Vor allem die Braunkohlekraftwerke in Bitterfeld waren in der DDR dafür verantwortlich, dass über der Stadt häufig eine Feinstaubwolke hing.
Täglich flossen zu DDR-Zeiten 120.000 Liter Chemiemüll in Mulde und Elbe
Laut einer geheimen Studie des DDR-Umweltministeriums flossen jeden Tag 120.000 Liter Chemiemüll in Mulde und Elbe. Kläranlagen gab es nicht - nur einzelne Staubecken in den Betrieben. Rund 4 500 verschiedene Produkte wurden am Standort hergestellt. „Genauso zahlreich waren die giftigen Abfälle, die in die Umwelt gelangten“, sagt Rötschke. „Phenole, Schwermetalle, Quecksilber, Öle, Cyanide und so weiter. “ Bitterfeld-Wolfen erhielt daher den unrühmlichen Titel „dreckigste Stadt Europas“.
Mit der Einstellung des Braunkohletagebaus nach der Wende verbesserte sich die Luftsituation schlagartig. Im Jahr 1994 ging eine große, moderne Gemeinschaftskläranlage für den Chemiepark und die Stadt in Betrieb, die eine Kapazität für umgerechnet 586 000 Einwohner hat. „Damit war auch die Abwasserproblematik behoben“, so Rötschke. Doch 125 Jahre Chemie am Standort stecken auch im Boden.
Greppiner Grundschule im Jahr 1999 aufgegeben
Für die Grube Johannes ist nun eine Lösung gefunden. Die MDSE hatte den Versuch gestartet, die Schlämme mit groben Material aus Müllverbrennungsanlagen zu mischen. „Das schotterartige Material schließt den Schlamm gut ein“, sagt Rötschke. „Nach einer Weile vererdet das Ganze.“ Noch in diesem Sommer soll mit der Verfüllung des Nordschlauchs der Grube begonnen werden. Nach den Worten des MDSE-Chefs soll in zehn bis 15 Jahren die gesamte Grube verfüllt sein. „Unser Ziel ist es, dass das Gelände wieder begehbar wird.“
Doch nicht überall lassen sich die Schäden beseitigen. Auf Rötschkes Arbeitstisch liegt eine Karte mit den Grundwasserbelastungen unter dem Chemiepark. Es dominieren die Farben rot und dunkelviolett. „An einigen Stellen haben wir die 10.000-fache Überschreitung des Grenzwertes für Trinkwasser“, sagt der Fachmann.
Das Grundwasser hat an einigen Stellen die Farbe gelb, an anderen rötlich und manchmal schwarz. „Bei einigen Proben ist das ein regelrechter Chemiecocktail.“ Glücklicherweise bewegt sich Grundwasser im Laufe der Jahre nur langsam. An verschiedenen Stellen im Chemiepark wurden sogenannte Sperrbrunnen errichtet, die dafür sorgen, dass sich das belastete Grundwasser nicht ausbreitet. Der besondere Untergrund mit Braunkohlenresten bei der Ortschaft Greppin sorgt jedoch immer wieder dafür, dass die Brunnen nur eingeschränkt arbeiten oder ausfallen.
In den Filterschlitzen setzt sich Schlamm ab, Kalk härtet diesen aus. MDSE-Bereichsleiter Ronald Basmer berichtete der MZ zuletzt, dass eine Greppiner Grundschule im Jahr 1999 aufgegeben werden musste. Der Keller des Gebäudes war so tief, dass durch steigendes Grundwasser Kontaminationen austraten. Von unten breitete sich ein Gestank in den Räumen der Schule aus. Anderswo belüftet die MDSE ständig Greppiner Keller.
Durch ein Großprojekt soll das Problem nun im wahrsten Sinne des Wortes eingedämmt werden. Rötschke und sein Team wollen eine riesige Mauer errichten lassen: 650 Meter lang, 35 Meter tief. „An der unterirdischen Dichtungswand würde sich das belastete Grundwasser stauen“, erklärt der Chef der Sanierungsgesellschaft. Über ein Drainagesystem ließe es sich dann relativ problemlos abpumpen. Nach seinen Worten könnte 2020 Baubeginn sein, acht bis zehn Millionen Euro würde die Errichtung wohl kosten. Eine ähnliche Wand wurde bereits in Leuna erreichtet. Der Bau der Mauer ist teuer - langfristig wahrscheinlich aber die kostengünstigste Lösung.
Nach Schätzungen von Chemiepark-Chef Michael Polk wurden nach der Wende in der Region rund eine Milliarde Euro in den Umweltschutz gesteckt. Ein großer Teil des Geldes wurde etwa in die Sanierung der Böden gesteckt. Unternehmen, die im Chemiepark investieren, müssen sich nicht um die Altlasten kümmern.
Natur in der Region Bitterfeld-Wolfen erholt sich
Rötschke, der im Ruhrgebiet Bergbau studiert hat, sagt: „In Bitterfeld-Wolfen waren und sind Umweltbelastungen auf einer vergleichsweise großen Fläche. Doch ähnliche Probleme gibt es auch in westdeutschen Chemieregionen.“ Nach seiner Einschätzung waren bis in die 60er Jahre hinein auch in der Bundesrepublik die Umweltschutzstandards eher lax.
„Nicht nur in der DDR wurde Schindluder betrieben“, sagt er. In den alten Bundesländer müssten vielfach aber die Chemiefirmen selbst dafür sorgen, ihre Flächen von Kontaminationen zu befreien. Das geschehe vielfach ohne öffentliche Aufmerksamkeit.
Nabu-Vorsitzender Richter freut sich, heute am Goitzsche-See „Wintergäste“ wie Wildgänse und seltene Arten wie den Silberreiher beobachten zu können. Er arbeitet mit an der Wiederansiedlung der Flussseeschwalbe. „Die Natur hat sich erholt“, freut sich Richter. Doch sieht er auch heute Probleme: „Kiebitz und Rebhühner, die es früher zuhauf gab, sind sehr selten geworden.“ Verantwortlich dafür ist aus seiner Sicht nicht die Chemie, sondern „die intensive Landwirtschaft, die die Lebensräume der Vögel einschränke“. Der 81-Jährige sieht daher reichlich Gründe, um sich für den Naturschutz weiter einzusetzen.
Tagebau Goitzsch wird See
Goitzsche hieß ein vor den Toren Bitterfelds gelegener 760 Hektar großer Auenwald mit einer ausgeprägten botanischen Artenvielfalt. Der Tagebau Goitzsche begann 1948 und endete 1991. Anschließend begann die Sanierung und Rekultivierung des Tagebaus durch die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV), die im wesentlichen 2002 abgeschlossen war.
Nur einige Zahlen: Es wurden rund 60 Millionen Kubikmeter Abraum bewegt, 200 Kilometer Gleisanlagen und 60 Kilometer Rohranlagen abgebaut. Anschließend erfolgte die Flutung des ehemaligen Tagebaus mit knapp 290 Millionen Kubikmeter Wasser aus der Mulde. Der Rundweg um den See ist etwa 62 Kilometer lang. Die Sanierung des Sees hat rund 300 Millionen Euro gekostet.
Heute wird die Goitzsche vor allem zum Wassersport genutzt. So gibt es einen eigenen Stadthafen für Segelboote. Rund um den See sind Wohnanlagen entstanden. Am Ufer zur Stadt liegen auch große Hausboote, die als Ferienwohnungen vermietet werden. Die Umweltschutz-Organisation BUND hat zudem das Projekt Goitzsche-Wildnis ins Leben gerufen, das die ursprüngliche Auenlandschaft und Artenvielfalt wiederbeleben will. (mz)
