Bitterfeld Bitterfeld: Neue Wege gehen
Wolfen/MZ. - Lisa-Marie Richter kennt sich aus, wenn es um das Thema "Platte", also DDR-Neubauten, geht. "Ich habe mit meinen Eltern im Ring der Bauarbeiter gewohnt", erklärt die zwölfjährige Schülerin des Heinrich-Heine-Gymnasiums. Als sie fünf Jahre alt war, sei sie dann weggezogen. Nun, sieben Jahre später, nähert sie sich im Rahmen einer Architekturwerkstatt erstmals wieder der Neubausiedlung.
Dabei wird sie - im übertragenen Sinn - von Anne Boissel an die Hand genommen. Die 40-jährige arbeitet nach eigenen Aussagen im Grenzbereich zwischen Architektur, Design und Licht und setzt sich unter anderem mit der "Alltagsarchitektur" auseinander.
Dafür hat sie Grundrisse studiert, alte Postkarten gesammelt - und sich natürlich auch einen Eindruck vor Ort verschafft. "Bestandsaufnahme", nennt sie das. Das Ergebnis: "Die Platte, so wie wir sie noch kennen, ist verschwunden. Entweder wurde sie abgerissen oder sie wird hinter Dämmung versteckt."
Damit aber die Heranwachsenden verstehen könnten, was die Neubaublöcke architektonisch ausmacht, müsse man einige - quasi als Denkmal - im Originalzustand erhalten.
Doch in der Architekturwerkstatt mit den Kindern und Jugendlichen verfolgt sie einen anderen Ansatz. Hier geht es nicht darum, wie die Platte von außen aussehen soll, sondern wie man sie im Innern gestalten kann. "Wir gehen davon aus, dass wir einen leeren Block haben, den wir zu einem Jugendhaus umbauen." Die Aufgabestellung lautet also: "Wie würde so ein Block aussehen, wenn Kinder und Jugendliche ihn verändern könnten?" Um dies zu beantworten, muss Anne Boissel erst einmal herausfinden, was die Schüler bewegt. Also haben sie mit Kreide ihre Freizeitvorstellungen zunächst aufgemalt. "Sport machen, Computer spielen oder Musik hören - die Palette ist breit gestreut." All diese Anregungen werden nun in ein dreidimensionales Modell im Maßstab 1 zu 50 übertragen. Als Grundriss werden die Wohnungen des Typs WBS 70 genommen. "Durch diese Arbeit können die Schüler ihre Wünsche in das Gebäude projizieren und lernen gleichzeitig, was architektonisch funktioniert und was nicht." Auch die Kunstlehrerin Katharina Schimke verfolgt das mit großem Interesse. "Anstatt wegzureißen, gestalten wir Wolfen-Nord nach unseren Vorstellungen neu", sagt sie. So können sich die Schüler als Gestalter erleben. Nicht nur der Siedlung, sondern auch ihres eigenen Lebens.
Dass man mit der Architekturwerkstatt nicht die vorhandenen Probleme der Neubausiedlung lösen kann, weiß auch Anne Boissel. Es gehe aber um eine andere Perspektive auf das Vorhandene. Oder auch auf den Wandel. "Denn früher war das für mich immer die Stadt, die nur aus Wohnblöcken bestand", sagt Lisa-Marie Richter. "Doch jetzt ist es sehr grün hier." Und so erfährt Wolfen-Nord durch die Schüler nicht nur einen neuen Anstrich, sondern wird auch anders wahrgenommen.