Bitterfeld Bitterfeld: Abschied von Trabant und Colormat
BITTERFELD/MZ. - Es ist der Dienstag vor der großen Einheitsfeier in Berlin. Auf den Anzeigenseiten der MZ überbieten sich die Angebote von Unternehmen und Unternehmungen. Mit Markisen für Balkon und Fenster von hoher Qualität versucht die Sattlerei der Filmfabrik Wolfen AG den Sprung von der Plan- zur Marktwirtschaft. Im Brehnaer Kino "Impuls" werden Kacheltische direkt vom Hersteller zum Sonderpreis verkauft. Angekündigt wird eine große westdeutsche Teppichausstellung in der Wolfener Gaststätte "Zentrum". Ein führendes Unternehmen der Finanz- und Kapitalbranche sucht Mitarbeiter in Bitterfeld. Heizöl in jeder gewünschten Menge bietet eine Kohlenhandlung in Sandersdorf an. Und im Jugendklubhaus '83 in Wolfen-Nord soll mit Gästen aus der BRD über Ökologie diskutiert werden, während der Jugendklub '84 zu einer Disko bis in die Einheit einlädt. Eintritt: 3,10 DM.
Einigen Anzeigen vom 2. Oktober 1990 ist die MZ zwei Jahrzehnte später nachgegangen, um zu erfahren, was daraus geworden ist und wie sich die Menschen aus der Region im vereinigten Deutschland zurechtgefunden haben.
Vor dem Umzug gen Westen
Wenige Tage vor seinem Umzug nach Baden-Württemberg gab der Roitzscher Thomas Boyde eine Anzeige auf. Der damals 24-Jährige wollte unter anderem ein Modellbrautkleid mit Reifrock und einen Trabant 601, Baujahr 1967, mit Neuaufbau im April 1990 in "optisch und technisch sehr gutem Zustand" verkaufen. An das Brautkleid kann er sich nicht mehr erinnern, doch dass der Autoverkauf erfolgreich war, weiß er noch genau. "Ich hatte Glück, dass ich den Trabi, den ich ein paar Wochen vorher für tausend D-Mark gekauft hatte, noch für 500 Mark losgeworden bin. Er ging, glaube ich, nach Pouch", berichtet der gelernte Maschinenschlosser, der in der Zuckerfabrik Roitzsch gearbeitet hat und im Oktober 1990 mit seiner Frau nach Heidelberg gegangen ist. "Dort habe ich sofort eine Anstellung bei Südzucker und eine Wohnung bekommen", berichtet Boyde.
Nie arbeitslos gewesen zu sein empfindet er als großes Glück. 1999 ist er aus Baden-Württemberg zurückgekehrt, hat im Getriebebau des Automobilzulieferers Magna Powertrain in Roitzsch Arbeit gefunden und wohnt mit seiner neuen Partnerin in Leipzig-Wiederitzsch. Was sein erstes "Westauto" nach dem Verkauf des Trabis war? Thomas Boyde muss nicht lange überlegen: "Das war ein Ford Fiesta."
Keine Zeit für den Ruhestand
Wir machen weiter! Dieser Gedanke steckte hinter der Anzeige, mit der Lutz Richter am 2. Oktober in der MZ für seinen Fernseh-Meisterbetrieb warb. "Zum Aufhören war es zur Wende zu zeitig", sagt der Jeßnitzer. Und so ließ er seine Kunden wissen: "Auch nach dem 3. Oktober ist Ihr Farbfernsehgerät Colormat oder Colortron weiterhin farbtüchtig!" Das Geschäft in der Jeßnitzer Hauptstraße existiert noch immer. Die Leute sind zufrieden, dass sie bei ihm nicht nur TV-Geräte kaufen oder reparieren lassen können, sondern auch Kleinigkeiten wie Sicherungen, Batterien, Glühbirnen, Kabel und eine CD von Bata Illic oder Captain Cook bekommen.
Der 69-Jährige hat nach wie vor eine Vorliebe für die Apparate aus der Staßfurter Produktion. Neben modernen Fernsehgeräten von Grundig, Toshiba und Philips stehen Liebhaberstücke aus DDR-Zeiten wie eine Musiktruhe aus dem Jahr 1956 und ein Colormat 4506. "Mit Infrarot-Fernbedienung und acht Sendespeichern", erklärt Richter. Er habe immer repariert, was irgendwie machbar gewesen sei, sagt er. Auch wenn die Beschaffung von Ersatzteilen zu DDR-Zeiten problematisch gewesen ist. "Vom Vertrieb in Halle wurden zuerst die VEB, dann die PGH und zuletzt die Privaten beliefert", berichtet Richter. Trotz allem hat er versucht, den Kunden möglichst schnell zu helfen. Viele Leute haben aber auch selbst einiges unternommen, um das gewünschte Bild ins Wohnzimmer zu holen. Mit einer hohen und großen Antenne mit vielen Elementen konnte man in der Region nämlich auch ARD und ZDF empfangen. "Die Kunden haben sich die Antenne oft selbst gebaut. Mit Zehner-Rundaluminium aus der Alu-Produktion des CKB, das an Werksangehörige verkauft wurde", erinnert sich der Jeßnitzer.
Nach der Wende, als er neben den Reparaturen auch den Verkauf übernommen hatte, verlief für den Rundfunkmechanikermeister und seine Kunden auch nicht alles glatt. "Für die Leute waren die Fernsehapparate aus dem Westen etwas Neues und Interessantes", erinnert sich Richter. Weil sich einige Geräte aber als ziemlich störanfällig erwiesen, habe es bei manchen ein böses Erwachen gegeben. "Viele dachten ja, dass Westgeräte nie kaputt gehen." Einige der Marken, die sich Anfang der 90er Jahre gut verkauften, sind inzwischen vom Markt verschwunden.
Die MZ-Anzeige scheint für die Meisterwerkstatt einen gewissen Erfolg gebracht zu haben, denn Lutz Richter hatte noch eine ganze Zeit mit der Reparatur von DDR-Fernsehern zu tun. Nicht wenige Kunden behielten ihre Geräte, für die sie 4 000, 5 000 oder 6 000 Mark ausgegeben hatten. Der Trend habe drei, vier Jahre gehalten, sagt der Jeßnitzer. Jetzt gibt es noch einen Kunden mit einem Colormat 4506, auch für den hat er immer noch Ersatzteile auf Lager.
"Wir wollten zusammenbleiben"
Die Anzeige vom Oktober 1990 war für die Sängerin Angela Novotny ein bis dahin ungewohnter Auftritt. "Ich musste mich zum ersten Mal selber anbieten", sagt die Jeßnitzerin. Aus der "jungen Alleinunterhalterin (Gesang, Keyboards, Computer im Stereosound)", die die niveauvolle Umrahmung festlicher Anlässe sowie ein 45-Minuten-Unterhaltungsprogramm zu übernehmen bereit war, ist die Inhaberin eines Musikhotels geworden, die ihren Gästen gern ein Ständchen zum Geburtstag singt und mit ihren Liedern auch im Rundfunk, Fernsehen und auf großen Bühnen Erfolg hat. Doch es brauchte seine Zeit, bis sie die Verbindungen zu Tonstudios und Produzenten aufgebaut hatte. "Nach der Wende waren ja erst einmal alle Kontakte zu Kulturhäusern, zur Konzert- und Gastspieldirektion und anderen Veranstaltern weg." Da lagen bereits "zwei tolle Anfangsjahre" hinter ihr. Nach ihrem Musikstudium und dem Staatsexamen in Leipzig hatte sie mit ihrem eigenen kleinen Unterhaltungsprogramm mehr Auftritte, als es Tage im Jahr gab. Das Ganze wurde von einer Art Familienunternehmen getragen: Ihre Mutter koordinierte die Termine, ihr Mann fungierte als Techniker. Noch fünf Tage vor der Geburt ihres Sohnes Florian im Januar 1989 war sie unterwegs. "Unser B 1000 war eine Rostlaube", erinnert sie sich. Um den Barkas zu bekommen, mussten sie nicht nur einen neuen Wartburg hinstellen, sondern auch eine Genehmigung holen, damit er aus einem anderen Bezirk eingeführt werden durfte.
Mit dem ersten D-Mark-Kredit haben sich die Novotnys einen Ford-Bus und eine neue Anlage angeschafft. "Da hatte ich zwar alles an Technik, aber keine Auftritte mehr." In der Situation hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben Flyer verteilt, Anzeigen geschaltet und alles angenommen, was sich an Auftritten bei Jugendweihe- und anderen Familienfeiern ergeben hat. "Mein Mann hätte sonst als Küchenmeister in die alten Bundesländer gehen müssen. Doch wir wollten unbedingt zusammenbleiben." Dafür hat sie gekämpft. Als man ihr in Bad Schmiedeberg sagte, dass nur Kurorchester gefragt sind, hat sie die Organisatoren überredet, sie für das Spritgeld auftreten zu lassen und danach zu entscheiden. Es hat geklappt. Jetzt hat sie viele Auftritte in Kurbädern wie im Fernsehen, so dass die Zeit für das Musikhotel manchmal knapp wird. Doch dann springt ihr Sohn, der singende Koch Florian, ein.