Vorbild für Inklusion Inklusion in Bernburg: Physiotherapeutin bekommt blind Vertrauen geschenkt

Bernburg - Die Tür geht auf, Marlen Kirmse kommt herein. Zielstrebig geht die junge Frau geradeaus, lächelt und reicht die Hand zur Begrüßung. So weit, so normal. Erst beim zweiten Blick fällt auf, dass die gelernte Physiotherapeutin blind ist.
Ein Handicap? Mit Sicherheit. Ein Problem? Mitnichten, denn wie sehende Menschen auch, geht die 37-Jährige einer geregelten Arbeit nach; ist sogar jeden Morgen die Erste in der Physiotherapiepraxis von Ellen Schumann und Michael Koudelka in Bernburg - und das seit knapp anderthalb Jahren.
„Wir suchten damals händeringend jemanden“, erzählt Michael Koudelka. Unter den Bewerbern sei Marlen Kirmse sofort hervorgestochen - nicht ob ihrer Behinderung, sondern ihrer fachlichen Kompetenz.
Inklusion in Bernburg: „Warum sollten wir es nicht probieren?“
„Ihre Vita war einfach beeindruckend“, meint Koudelka. Dass sie blind sei, „das ist auf dem Foto gar nicht aufgefallen“, meint Ellen Schumann, die ebenfalls von Anfang an von der jungen Frau begeistert gewesen sei.
Und so stand nach dem ersten Kennenlernen für beide Praxis-Inhaber fest, dass sie der Wahl-Alslebenerin eine Chance geben wollen - obwohl sie per Gesetz nicht dazu verpflichtet sind. Nur Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen müssen mindestens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten Menschen besetzen.
„Sicher, wir hatten Respekt vor dieser Aufgabe“, sagt Koudelka, „aber warum sollten wir es nicht probieren?“ Bereut haben beide Seiten diesen Schritt nicht. „Ich fühle mich sehr wohl. Sie haben es mir aber auch nicht schwer gemacht“, sagt Marlen Kirmse, die das gleiche Programm absolviert wie ihre insgesamt neun Kollegen.
Inklusion in Bernburg: „Oftmals fehlt die Aufklärung“
Egal ob Massage, Lymphdrainage oder Krankengymnastik - ihre Blindheit steht ihr bei der Behandlung kaum im Weg, auch nicht bei der Jobsuche, wenngleich sie weiß, dass viele Arbeitgeber Angst davor haben, jemanden wie sie einzustellen.
„Oftmals fehlt die Aufklärung“, meint die blinde Frau, die auch schon mit Vorurteilen zu kämpfen hatte. „Kann man das überhaupt leisten? Bei Massage sagen viele noch Ja, aber bei Gangschule? Da kann sich kaum jemand vorstellen, dass das geht.“ Doch es funktioniert.
Seit zwölf Jahren arbeitet die 37-Jährige bereits in diesem Beruf, zuletzt in Berlin. Probleme, eine neue Anstellung zu finden, habe sie nie gehabt - wohl auch aufgrund ihrer Selbstständigkeit.
Physiotherapeutin Marlen Kirmse: Selbstständigkeit ist ihre große Stärke
So fährt sie tagtäglich alleine mit dem Bus von Alsleben, wo sie gemeinsam mit ihrer ebenfalls blinden Frau ein Haus bewohnt, nach Bernburg. Nicht nur diese Strecke, auch die Praxisräume kennt sie mittlerweile wie ihre Westentasche, weshalb man einen Taststock in ihrer Hand oder Mitläufer an ihrer Seite vergeblich sucht.
Die einzigen Hilfestellungen, die ihr Kollegen geben, sind im wahrsten Sinne des Wortes Handreichungen. Beispielsweise bereiten sie die Fango-Packungen vor, die Marlen Kirmse dem Patienten dann auflegt, oder besprechen ein Diktiergerät mit der Patientenreihenfolge, damit ihre blinde Kollegin erfährt, wer welche Behandlung erhält.
Einzig der Schriftverkehr, wie die Bearbeitung von Rezepten oder die Vergabe von Terminen, muss gänzlich ein Sehender übernehmen.
Physiotherapeutin Marlen Kirmse: Von Arbeitsagentur ausgezeichnet
Doch das ist gelebte Inklusion, die von der Arbeitsagentur nun mit einem entsprechenden Zertifikat gewürdigt wurde. Der Fall von Marlen Kirmse ist dabei in vielerlei Hinsicht ein Paradebeispiel - nicht zuletzt, weil die blinde Frau, wie sie selbst sagt, darauf achte, sich unterzuordnen, um nicht aufzufallen.
Dementsprechend wirken ihre Gestik, Mimik und Motorik keineswegs „antrainiert“, sondern echt. „Ich finde, dass man sich als Behinderter an die normale Welt anpassen muss“, sagt sie, „damit man nicht aus der Reihe tanzt.“ Denn eines will die Alslebenerin nicht: dass sie aufgrund ihrer Blindheit anders behandelt wird.
(mz)