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Juni 1953 Juni 1953: Karriere-Hürden eines «reaktionären Haufens»

Von Stephan Neef 16.06.2003, 16:45

Quedlinburg/MZ. - Das passiert, wenn er Gäste empfängt, die "Geschichte lebendig machen" können. Dieses nicht alltägliche Zeugnis stellte der Schulleiter jenen Herren aus, die am vergangenen Freitag seine Schule besichtigten und sich in der Aula zu einer beeindruckenden Feierstunde trafen. Für Hans-Eberhard Hamm und seine Mitstreiter war es allerdings ein Wiedersehen: In diesen Mauern hatten sie gemeinsam die Schulbank gedrückt, hier ging vor 50 Jahren - im Juni 1953 - ihre "überwiegend unbeschwerte Pennälerzeit zu Ende", wie Hamm betonte. Dass sie nicht gänzlich unbeschwert war, lag an den politischen Verhältnissen, in denen die soziale Herkunft zum Verhängnis werden konnte.

Denn die damalige 12 c war keine gewöhnliche Gymnasiasten-Klasse. Als die 1946 im Zuge der Einheitsschulreform zu Volksschülern Degradierten zwei Jahre später "per Kommissionsbeschluss zur Oberschule zugelassen wurden", hätte ihre Namensliste für Entsetzen gesorgt, erinnern sich Hamm und sein Ex-Mitschüler Gerhard Seewald. "Was soll ich mit diesem Haufen?", hätte der Direktor gefragt. Bestand doch das ominöse Klassenkollektiv aus "lauter Arzt-, Kaufmanns- und Pastorensöhnen".

Der "reaktionäre Haufen" wurde nur widerwillig integriert. Fortan "blies uns ein unangenehmer Ostwind ins Gesicht, der uns noch enger zusammen schweißte", berichtet Hamm. "Wir wurden eine verschworene Gemeinschaft in einem Staat, der uns nicht wollte." Die Väter - Hamm war Sohn eines selbstständigen Kaufmanns - wurden als kapitalistische Blutsauger gebrandmarkt und in vielfältiger Weise diskriminiert.

Ex-AbiturientIhre Kinder sollten nicht weit kommen, das Abitur den Arbeitersprösslingen vorbehalten sein. Ein privilegierter Vater, der als berühmter Genetiker "direkte Verbindungen zu den sowjetischen Statthaltern hatte, setzte in Berlin durch, das wir das Abitur machen durften - als die letzten Humanisten in Quedlinburg", weiß Hamm. Doch die politische Situation habe ein Bauernopfer gefordert, erinnert sich Seebald. Ein Propst-Sohn, dessen Vater als Kirchenpräsident und Chef der "Altpreußischen Union" fungierte, wurde nicht zur Prüfung zugelassen und erst nach dem 17. Juni 1953 "rehabilitiert".

Drei Tage vor dem Volksaufstand erfuhren seine Mitschüler ihre Prüfungsergebnisse - alle hatten bestanden. Doch die Kremserfahrt ins Selketal, mit der die Pennäler den glorreichen Abschluss feien wollten, fiel - wenn auch nur vorübergehend - der Ausgangssperre zum Opfer. Das Abitur öffnete ihnen jedoch nicht die gewünschten Türen. Seebald durfte als Förstersohn nicht Medizin studieren. "Gehen Sie auf den Bau, Sie sind doch in Mathe genauso gut wie in den alten Sprachen", soll der Direktor gesagt haben. Die Maurerlehre absolvierte Seebald noch im Osten. "Wer sich etwas zutraute, der ging in den Westen", erinnert sich Hamm. "Wer etwas bequem war, blieb hier." Die meisten gingen und machten jenseits von Elbe und Werra Karriere, wurden Architekt, Apotheker, Chirurg, Jurist. In Quedlinburg hätten sie trotz aller Hürden die "bestmögliche humanistische Bildung genossen", sagen sie heute. Auch deshalb haben sie die Wurzeln zur alten Heimat nie gekappt, gesteht Hamm.