Algebra im Pyjama in Stuttgarter Krankenhausschule
Stuttgart/dpa. - In diese Schule kommen Kinder und Jugendliche nur für ein paar Monate oder immer mal wieder für einige Tage. Obwohl die meisten von ihnen mit Begeisterung lernen, sind alle froh, wenn sie der Schule für immer den Rücken kehren können.
Denn die «Schule für Kranke» in der Stuttgarter Kinderklinik Olgäle kümmert sich um die Schüler, die eine schwere organische Krankheit haben oder aufgrund ernsthafter psychischer Probleme stationär in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind. Wer hier unterrichtet, braucht ein großes Herz, ein offenes Ohr - und manchmal ein dickes Fell.
Dass Einfühlungsvermögen das A und O in seinem Beruf ist, hat Jürgen Orts, Leiter der ältesten Krankenhausschule Deutschlands (gegründet 1842), schon in seinen ersten Wochen dort deutlich gespürt. Seine damalige Begegnung mit einem krebskranken Mädchen prägt ihn noch heute. Die Teenagerin wusste, dass sie nur noch wenige Wochen zu leben hatte, und wollte trotzdem unbedingt Unterricht haben. «Sie sagte zu mir: Traurig sein können Sie, wenn ich tot bin. Jetzt möchte ich lernen», erzählt der 58-Jährige.
«Es ist jedes Mal schwer, wenn ein Kind stirbt», sagt Rosemarie Rothmund-Timm, Mitglied des 24-köpfigen Lehrerkollegiums. Als Lehrerin auf der Station für Krebserkrankungen hat sie schon einige Schüler verloren. «Doch ich habe im Umgang mit dem Tod dazugelernt und begreife ihn heute als Teil des Lebens.»
Längst nicht alle Patienten sind schwerstkrank. Einige haben nur eine leichtere Erkrankung, brauchen aber Hilfe, weil wichtige Arbeiten anstehen. Andere kämpfen mit chronischen Krankheiten wie Rheuma, Diabetes, Nieren- oder Atemwegserkrankungen. Und manche haben psychische Probleme. Die Kinder und Jugendlichen kommen aus den unterschiedlichsten Schulformen, einige sogar aus anderen Bundesländern - mit einem eigenen Schulsystem und Bildungsplan.
Jeder der Schüler-Patienten bekommt einen individuellen Lehrplan, in Absprache mit seiner Schule und den Ärzten. Wenn es ansteht, werden auch Arbeiten geschrieben. Sogar Schulabschlussprüfungen können hier gemacht werden - notfalls mit mehreren Unterbrechungen, wenn es der Gesundheitszustand erfordert.
2007 besuchten etwa 700 Schüler die Krankenhausschule. Allerdings selten mehr als 100 gleichzeitig. In der somatischen Klinik hat jeder Schüler bis zu zwei Schulstunden täglich, oft direkt am Krankenbett. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben die Schüler einen Stundenplan, der bis zu fünf Unterrichtsstunden pro Tag umfasst, in Gruppen und in eigenen Klassenzimmern.
Der Unterricht gibt vielen Patienten Rückhalt. «Schule ist für die Kinder etwas Vertrautes im oft beängstigenden Klinikalltag. Außerdem ist unsere Arbeit zukunftsorientiert - auf die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt», betont Orts. Die Lehrer informieren bei Bedarf die Stammschulen auch über die jeweiligen Krankheiten und die daraus resultierenden Förderbedürfnisse.
Rainer Schmid-Vasterling hat ganz bewusst dem Gymnasium den Rücken gekehrt, um in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu unterrichten. «Früher bin ich meist damit beschäftigt gewesen, Zahlen in irgendwelche Lehrerkalender einzutragen», sagt er und schmunzelt. Heute suche und finde er oftmals schlummernde Begabungen bei Schülern, die von anderen Lehrern abgehakt wurden. Nicht wenige dieser vermeintlich aussichtslosen Fälle hätten sogar Abitur gemacht. «Wenn man so will, kümmern wir uns hier auch um Reklamationen aus dem Bildungssystem», erklärt Rektor Orts.
Der 17-jährige Benjamin kam in die Klinik für Jugendpsychiatrie, weil er aufgrund einer schweren Angststörung das Haus nicht mehr verlassen hat. Nun wird er bald an einer Fachhochschule Biotechnologie lernen. «Ich weiß jetzt, was ich will», sagt er. Selbstbewusstsein habe er gewonnen. «Ich kann jetzt mit Leuten in meinem Alter ganz entspannt umgehen.»
Auch der 13-jährige Simon, der erst wenige Wochen im Olgäle ist, weiß die Schule zu schätzen. Eine Kopfverletzung durch einen bösen Sturz hat ihm schwer zu schaffen gemacht. Immer wieder quälten ihn Schwindelanfälle. Während er in der Klinik unter Beobachtung stand, hat er kräftig gebüffelt. «Das verkürzt die Zeit sehr. Sonst liegt man ja nur rum, wenn man nicht gerade Krankengymnastik hat», sagt er und lacht befreit, denn heute ist sein Entlassungstag.