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Familienleben während der Trotzphase des Kindes Warum werden Kinder bockig?

Ein Kleinkind, das lieber weiterspielen als zum Essen kommen will: Diese vermeintliche Sturheit hat viel mit der Entwicklung der Denkfähigkeit zu tun. Wie bewahren Eltern Ruhe? Eine Entwicklungspsychologin gibt Tipps.

Von Nadine Zeller Aktualisiert: 02.11.2023, 09:28
„Weigert sich  ein Kind, das Spiel zu beenden, ist das kein Zeichen von Sturheit, sondern von Konzentration", sagt Entwicklungspsychologin Sabina Pauen.
„Weigert sich ein Kind, das Spiel zu beenden, ist das kein Zeichen von Sturheit, sondern von Konzentration", sagt Entwicklungspsychologin Sabina Pauen. (Foto: Imago/Zoonar)

Sie wollen den Turm zu Ende bauen statt aufzuräumen, möchten weitermalen statt aufzubrechen. So sehr Eltern ihren Kindern auch gönnen, in Ruhe spielen zu können – im dicht getakteten Familienalltag lassen sich Unterbrechungen nicht immer vermeiden. In diesen Momenten protestieren Kleinkinder oft lautstark. Und das ist gut so.

Die Entwicklungspsychologin Sabina Pauen untersucht, wie sich das Denken von Kleinkindern entwickelt. Sie hat verschiedene Bücher zur kindlichen Entwicklung veröffentlicht. Für Pauen ist klar: Bis zu einem bestimmten Alter können Kinder nicht rasch zwischen zwei verschiedenen Tätigkeiten wechseln. Denn dazu müssen zuerst bestimmte Hirnstrukturen herangereift sein.

Sie nennt ein Beispiel aus dem Alltag: Das Kind spielt, doch die Mutter möchte, dass es zum Essen kommt. Das Kind hatte bis zu diesem Zeitpunkt ein Ziel, etwa einen Turm zu bauen. Der geforderte Wechsel zu einer anderen Tätigkeit kann das Kleinkind überfordern. „Weigert sich ein Kind, das Spiel zu beenden, ist das kein Zeichen von Sturheit, sondern meist von Konzentration“, sagt Pauen.

Sich nicht ablenken zu lassen und einen Fokus zu behalten, gehöre grundsätzlich zu einer gesunden Entwicklung. Etwa ab einem Alter von fünf bis sechs Jahren gelingt es dem Kind leichter, dem Wunsch der Mutter nachzukommen. Denn in diesem Alter sind die dafür notwendigen kognitiven Fähigkeiten bereits so weit entwickelt, dass der Wechsel von einer Situation in eine andere leichter fällt.

Flexibilität entwickelt sich

Kognitive Flexibilität kann zweierlei bedeuten: die Fähigkeit, umzudenken, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, oder auch die Fähigkeit, bei Problemen selbstständig Lösungen zu finden. Im Alltag sind die ersten Schritte hin zur kognitiven Flexibilität oft unerwartet. Ein Beispiel: Das Kind stellt zu seiner Überraschung fest, dass der Eiswürfel im Becher mit der Hand nicht zu fassen ist. Es entscheidet sich dazu, den Becher mitsamt dem Inhalt umzukippen. Der Erwachsene hätte eine andere Lösung gewählt. Doch für das Kind ist es der erste Schritt, ein unvorhergesehenes Problem selbstständig zu lösen.

Um die kognitive Flexibilität beim Kind zu messen, haben Entwicklungspsychologen spezielle Aufgaben entwickelt. Sie werden beispielsweise in Studien verwendet. Die Forschenden fordern die Kinder dazu auf, Gegenstände anhand ihrer Farbe zu sortieren. Nach einiger Zeit ändern sie die Aufgabe. Die Kinder sollen die Gegenstände nicht mehr nach der Farbe, sondern nach ihrer Form ordnen. Für Erwachsene ist die Aufgabe leicht. Doch Kindern fällt sie schwer.

Diese Aufgabe zeigt, dass kognitive Flexibilität stark altersabhängig ist. „Erst nach Farben, dann nach Formen ordnen – für Zweijährige stellen diese unterschiedlichen Aufgaben eine große kognitive Herausforderung dar“, sagt Pauen. Das Gehirn hat noch nicht die dafür notwendige Reife erreicht.

Basis für erfolgreiches Leben

Einmal entwickelt, ist die kognitive Flexibilität eine der Basiskompetenzen für ein erfolgreiches Leben. Sie gehört zu den Fähigkeiten, die wir benötigen, um Probleme zu lösen und zu lernen, kurz: um unser Verhalten zu steuern. Kinder, die schon früh über diese Fähigkeiten verfügen, sind oft als Erwachsene zufriedener und sogar gesünder.

Wie gut Kindern der Umgang mit anderen Menschen gelingt, hängt ebenfalls entscheidend von dieser Fähigkeit ab. Wer kognitiv flexibel ist, kann sich besser in andere hineinversetzen und so die Realität aus unterschiedlichen Perspektiven sehen. Dies wiederum hilft Menschen dabei, in ganz verschiedenen Situationen klarzukommen.

Wenn das Kind stur ist, kann das auch an der noch fehlenden kognitiven Flexibiltät liegen.
Wenn das Kind stur ist, kann das auch an der noch fehlenden kognitiven Flexibiltät liegen.
(Foto: Imago/Blickwinkel)

Der Weg an den Punkt, an dem die kognitive Flexibilität voll ausgereift ist, zieht sich hin. Erst im Alter von etwa 20 Lebensjahren ist sie voll entwickelt. Für Eltern stellt diese Zeit eine Geduldsprobe dar. Denn fehlt die kognitive Flexibilität, so können Kinder nicht nur schlecht zwischen Tätigkeiten wechseln, auch Abweichungen von einer Routine bringen sie aus dem Konzept.

Druck vermeiden

Damit das Kind kognitive Flexibilität erlernt, sollten Eltern vor allem ruhig bleiben. Denn „wer gestresst ist, reagiert wenig flexibel“, sagt Pauen. Um die kognitive Flexibilität zu fördern, benötigen auch die Erwachsenen die kognitive Flexibilität, sich auf die Sichtweise des Kindes einzulassen.

Die Familie macht sich morgens beispielsweise auf den Weg ins Schwimmbad – und steht vor verschlossenen Türen. Es macht erst später auf. Alle sind enttäuscht. Die Kleinkinder protestieren lautstark. Um weiteres Wutgeheul im Keim zu ersticken, schlagen die Eltern vor, dass man die Zeit mit einem Picknick überbrücken könnte. Diesen gut gemeinten Vorschlag quittieren die Kinder mit Protestgeheul. Da der Nachwuchs den guten Willen der Eltern nicht würdigt und sich nicht beruhigt, sinkt auch bei den Eltern die Stimmung, sie reagieren ungehalten. „Kinder sollten die Chance bekommen, selbst mitüberlegen zu dürfen: Okay, was machen wir jetzt?“, sagt Pauen. Erst dann schalteten sie um auf Eigenengagement in frustrierenden Situationen.

Empathie ist gefragt

Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene emotional im Gleichgewicht bleiben. Wer zornig wird, schadet nicht nur der vertrauensvollen Beziehung zwischen Kind und Elternteil, sondern verhindert, dass das Kind selbst aktiv werden muss und etwas lernt.

Erfährt das Kind im Elternhaus, dass es sich Zeit nehmen darf und Erwachsene sich seine Perspektive anhören, dann gelingt es dem Nachwuchs später besser, mit Unvorhergesehenem klarzukommen. In diesem Sinn beeinflussen die soziale Lernerfahrung und vermutlich auch die genetische Veranlagung, wie flexibel wir im Denken werden.

Kognitive Flexibilität ist nur möglich, wenn im Frontalhirn die entsprechenden Reifungsprozesse stattgefunden haben. Deshalb hilft es, wenn Eltern von Kindern im Trotzalter zwischen zwei und drei Jahren sich zunächst fragen: Was kann ich von meinem Kind schon erwarten und was nicht?