Kinderpsychologie Sachsen-Anhalt „Eine Therapie ist keine Reparaturwerkstatt“
Magdeburger Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie über Leistungsdruck, Mobbing, Ehekrach: Auch Kinder leiden unter Stress! Wie Eltern Probleme erkennen und was sie in Sachsen-Anhalt dagegen tun können.

Halle (Saale) - Alltägliche Belastungen können nicht nur bei Erwachsenen zu Stress führen – sondern auch schon bei Kindern. „Die Ursachen sind vielfältig und oft individuell“, sagt Hans-Henning Flechtner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
„Etwa in der Schule kann Leistungsdruck eine Rolle spielen. Oder es geht um Themen wie soziale Integration: dass Kinder keine Freunde finden, von Gleichaltrigen angegangen werden oder Kritik ausgesetzt sind.“ Auch Mobbing, egal ob auf dem Schulhof oder virtuell im WhatsApp-Klassenchat, könne ein Auslöser sein.
Stress bei Kindern: Ursachen und Symptome
Daneben sind laut Flechtner vor allem die familiären Verhältnisse entscheidend dafür, ob ein Kind seelisch im Gleichgewicht ist oder nicht: „Wenn die familiären Verhältnisse sehr unterstützend und hilfegebend sind, ist es natürlich etwas ganz anderes, als wenn Kinder aus prekären Verhältnissen kommen.“
Auch in Familien, in denen es häufiger Konflikte gibt, haben Kinder dem Psychiater zufolge ein höheres Stress-Risiko.

Auch genetische Komponenten und die kognitiven Fähigkeiten tragen ihren Teil dazu bei, dass ein Kind besser oder schlechter mit fordernden Situationen klarkommt. „Es gibt zum Beispiel ängstliche Persönlichkeiten, aber auch eher robuste“, sagt Flechtner.
„Und ein begabtes Kind wird mit Stresssituationen anders umgehen können als ein Kind, das nur über begrenzte kognitive Fähigkeiten verfügt.“ So könne etwa der Leistungsdruck bei einem Kind dazu führen, dass es sich überfordert fühle – ein anderes aber wiederum anspornen, sich noch mehr anzustrengen und die Aufgaben besser zu bewältigen.
Kinder und Stress: Wie Eltern unterstützen können
Das bedeutet nicht, dass Eltern ihren Kindern nichts zumuten dürfen: „Kinder sind durchaus widerstandsfähige Wesen“, sagt Flechtner. So hinterlasse Stress, solange das Kind ihn bewältigen kann, keine langfristigen Folgen.
„Problematisch wird es nur, wenn eine unlösbare Situation entsteht“, sagt der Psychiater. „Etwa wenn die Eltern in einer Scheidungsfamilie sich bis aufs Blut streiten und das Kind dem ausgesetzt ist, die Situation aber selbst nicht regulieren kann. Dadurch, dass es merkt, es hat keinen Einfluss darauf, entsteht eine Hilflosigkeit.“
So könne es sein, dass es sich auch in anderen Situationen machtlos fühle: „Und das kann Auswirkungen auf die eigene Widerstandsfähigkeit haben.“
Um frühzeitig zu erkennen, ob ihr Kind sich psychisch belastet fühlt, rät Flechtner: „Eltern sollten aufmerksam sein und darauf achten, ob Kinder sich in ihrem üblichen Verhalten ändern.“
Das können zunächst kleine Veränderungen sein: etwa dass sich der Nachwuchs mehr zurückzieht, weniger spricht oder nicht mehr an Mahlzeiten teilnehmen will.
Altersabhängige Stresssymptome bei Kindern
Symptome von psychischer Belastung hängen ihm zufolge auch viel vom Alter ab: „Kleine Kinder werden noch nicht äußern, dass es ihnen schlecht geht“, sagt Flechtner. „Sie werden es eher im Verhalten zeigen, etwa indem sie sich zurückziehen, weniger lebendig sind oder sich im Gegenteil aggressiv verhalten.“

Mit zunehmendem Alter können Kinder eher über ihre Belastung sprechen: „Sie können Ängste äußern oder dass es ihnen nicht gut geht. Im Jugendalter kommen explizite Dinge, etwa dass Kinder keine Lust mehr haben, in die Schule zu gehen, dass sie sich gemobbt fühlen, Schulangst oder sogar Suizidgedanken haben sowie dass sie mehr in Streit mit den Eltern geraten.“
Psychische Belastung: Anlaufstellen für Eltern und Kinder
Häufig kommen körperliche Beschwerden hinzu: „Grundschulkinder können Schlafstörungen haben oder nachts wieder einnässen. Aber auch häufig auftretende Bauchschmerzen, Übelkeit oder Kopfschmerzen können Ausdrucksformen von Belastung sein.“
Doch was können Eltern tun, wenn sie den Eindruck haben, dass sich ihr Kind verändert hat? „Sie sollten schauen, ob sie mit ihm darüber sprechen können“, sagt Flechtner. „Das kann gut gelingen – oder eben nicht.“
Gerade, wenn sich die Kinder den Eltern nicht anvertrauen möchten und die Eltern nicht weiter wissen, ist es ratsam, sich Hilfe von außen zu holen. Dafür stehen verschiedene Stellen zur Verfügung, wo eine Familie ein Beratungsgespräch führen kann. Oft hilft bereits ein Besuch einer Erziehungs- oder Familienberatung.
Diese behandeln oftmals viele verschiedene Themenfelder: So unterstützen sie bei familiären Konflikten, beraten bei Leistungsproblemen sowie bei psychischen Auffälligkeiten wie Ängsten oder depressiven Verstimmungen.
Therapie und Beratung: Hilfe für Familien in Sachsen-Anhalt
Falls Eltern sich dennoch psychologische oder psychiatrische Hilfe holen möchten, empfiehlt Flechtner: „Dafür wenden Eltern sich erst einmal an den Kinderarzt, einen Kinderpsychiater oder an eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort wird man ihnen sagen, wo sie am besten aufgehoben sind“, sagt Flechtner.
Entscheiden sich Eltern daraufhin, eine Praxis für Kinderpsychiatrie oder Kinderpsychologie aufzusuchen, haben sie Flechtner zufolge gute Chancen auf relativ schnelle Unterstützung: „Da gibt es zwar immer Wartezeiten, aber diese sind in der Regel nicht exorbitant lang. Gerade im Bereich der Kinderpsychologie hat sich in den letzten Jahren viel getan, sodass Sachsen-Anhalt aktuell ganz gut ausgestattet ist. Da ist es im Erwachsenenbereich schwieriger, an einen Therapieplatz zu kommen und oft mit längeren Wartezeiten verbunden.“
Elternrolle in der Therapie: Intuition und Zusammenarbeit
Was jedoch neben jeder Therapie wichtig ist, ist die Mitarbeit der Eltern. „Eine Therapie funktioniert nicht wie in einer Reparaturwerkstatt, wo man das Kind hinbringt und dann später wieder gesund abholt“, sagt Flechtner. Um das eigene Kind zu unterstützen, brauche es aber nicht immer professionelle Kenntnisse: „Vieles lässt sich mit gesundem Menschenverstand angehen. Ich kann Eltern nur ermutigen, auch der eigenen Intuition zu vertrauen.“
Eine gute Anlaufstelle sind Stellen für Erziehungs- oder Familienberatung: Sie helfen weiter bei einer Vielzahl von Schwierigkeiten, etwa bei Belastungen durch familiäre Konflikte, bei Trennungs- und Scheidungssituationen, aber auch bei schulischen Problemen. Eine solche Beratung bieten etwa der Erziehungshilfeverbund Anhalt, pro familia, die Caritas, die Diakonie oder die AWO.
Wo Hilfe zu finden ist: Beratungsstellen und Therapieangebote
Andernfalls können Eltern spezielle Stellen ansteuern. Bei Schulstress hilft zum Beispiel die Schulpsychologische Beratung des Landesschulamts Sachsen-Anhalt.
Beim Thema Mobbing finden Eltern Unterstützung bei der Beratungsstelle Mobbinghelp der Caritas. Auch in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychologie oder -psychotherapie sind Familien gut aufgehoben.