Nachschulung Nachschulung: Sünder auf der Punkte-Bank
Halle/MZ. - Anordnen - das klingt wenig kompromissbereit. Und in der Tat: Frau Wenz vom Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten in Berlin will nicht wissen, wie und warum es zu den Verkehrsübertretungen kam. Bei 14 Punkten im Flensburger Zentralregister kennt Frau Wenz kein Pardon: Aufbauseminar und die "Kosten werden von Ihnen zu tragen sein".
Also "Teilnahme an einem "Aufbauseminar für punkteauffällige Kraftfahrer (ASP)". Bei der Suche nach der Fahrschule, die ein solches Seminar in der vorgesehenen Frist (zwei Monate) veranstaltet, ist den Kandidaten eine "Zentralvergabestelle für Nachschulungskurse der Berliner Fahrschuldienst GmbH" behilflich. 300 Euro sind im voraus zu bezahlen.
An einem Sonntagmorgen sitzen elf Sünder in einer Berliner Fahrschule: Ein Schornsteinfegermeister, eine Weiterbildungsreferentin, ein Finanzberater, eine Hausfrau, ein Architekt, ein Mercedes-Mitarbeiter, ein Berufskraftfahrer, ein Lkw-Fahrer, ein Fotograf, ein Kellner, eine Journalistin. Mit einem Konto zwischen 9 und 16 Punkten sind sie alle in Flensburg dabei. Und allen gemeinsam ist, dass sie dies ganz und gar ungerecht finden. Der Fahrlehrer verteilt an jeden ein "Teilnehmerbegleitheft". Dieses Büchlein wird die Gruppe über vier Sitzungen (jeweils 2 Stunden 15 Minuten) und eine praktische Fahrprobe (30 Minuten) begleiten. Es ist Lehrbuch und Schulaufgabenheft zugleich.
Das wichtigste in der ersten Sitzung ist, Termine für die weiteren Sitzungen zu finden. Bei zwölf Teilnehmern keine leichte Prozedur. Aber da alle am Ende die Teilnahmebescheinigung brauchen, dann doch machbar. Dann stellt sich jeder mit seinem Sündenregister vor. Jeder variiert dieselbe Geschichte: Es geht ungerecht zu auf Deutschlands Straßen. Die Punkte treffen immer die Falschen. Eigentlich habe man gar nichts verkehrt gemacht, wenn hier nicht der verdammte heimtückische Blitzer und dort nicht die beiden Polizisten gestanden hätten. Rechtfertigung hier, Wut dort.
Der Kellner meinte, Tricks zu kennen, wie man Bußgeldbescheide umgeht, der Schornsteinfeger glaubte die Polizei mit einem Trekker an der Nase herumführen zu können, dem Finanzberater fehlte die Zeit zum langsameren Fahren, der Lkw-Fahrer schimpft über verkehrsuntüchtige Lastwagen, der Mercedes-Mitarbeiter bangte um seinen Anstellungsvertrag, der Fotograf findet ohnehin in Brasilien alles viel besser. Der Fahrlehrer hört sich geduldig das vielstimmige Lamento an und verteilt Hausaufgaben. "Wie sehe ich andere Verkehrsteilnehmer? Wie sehen andere mich?" Zwischen erster und zweiter Sitzung ist eine Testfahrt zu absolvieren. Dabei müssen sich die Teilnehmer gegenseitig beobachten und in ihrem Fahrverhalten beschreiben. Keine Prüfung sei dies, sagt der Fahrlehrer. Aber alle fühlen sich wie bei einer Prüfung und fahren so, wie sie wahrscheinlich sonst nie fahren: vorsichtig und vorschriftsmäßig. Die zweite Sitzung beginnt mit einer Überraschung: Alle sind wieder da. Man begrüßt sich schon wie alte Leidensgenossen. Die Testfahrt wird aufgearbeitet. Der eine hat zu hart geschaltet, der andere zu scharf gebremst. Richtig kritisch mag keiner mit dem jeweils anderen umgehen. Schließlich wollen alle dasselbe: Die Teilnahme-Bescheinigung für dieses Aufbauseminar. Doch noch ist es nicht soweit: Jetzt muss jeder erst einmal seine Punkte-Geschichte erzählen. Wie kam es zu drei Punkten dort, und fünf Punkten hier? Wieder schimpfen alle über die anderen Verkehrsteilnehmer.
Der Fahrlehrer überrascht mit der schlichten Frage, ob eigentlich alle Punkte auf einmal aufs Konto gekommen seien? Natürlich nicht, sondern nach und nach und über Jahre. Wieso eigentlich ist man nicht nachdenklich geworden zwischendurch? Selbstüberschätzung, Verführung durch zu schnelle Autos, Nichtbeachtung der Verkehrsregeln, Zeitnot - Gründe werden gesucht und laufen alle auf das gleiche heraus: Man hatte gehofft, es werde schon wieder gut gehen. Als Hausaufgabe soll jetzt jeder über seine Gefühle beim Fahren berichten.
In der dritten Sitzung teilt sich die Gruppe beinahe von selbst ein: in Zeitnotfahrer, in Imponierfahrer, in Sonntagsfahrer, in ängstliche oder vernünftige Fahrer, in Siegertypen-Fahrer. Jeder weiß jetzt, wo er steht.
In der vierten Sitzung der Punkte-Sünder schlägt die Stimmung auf wundersame Weise um: Sie fahre jetzt konsequent 50 in der Stadt und werde nur noch angehupt, erzählt die Hausfrau. Alle empören sich einhellig über viel zu viele aggressive Autofahrer auf den Straßen. Auch der Architekt fährt jetzt gelassen und fühlt sich dabei gut. Als dann noch der Finanzberater, bisher der typische Zeitnotfahrer, mit der Erkenntnis aufwartet, er brauche keine Fahrstunden, er brauche ein besseres Zeitmanagement, darf das Seminar für punkteauffällige Kraftfahrer wohl endgültig als Erfolg verbucht werden.
Punkte in Flensburg sind eine Sache des Kopfes und nicht des Fußes. Das haben alle kapiert - fragt sich nur, wie lange diese Erkenntnis anhält.