Wissenschaft Wissenschaft: Im Namen Abderhaldens
Halle/MZ. - Dort hat die Leopoldina - die "Akademie der Naturforscher" - ihren Sitz, die im Begriff steht, zur deutschen Nationalakademie aufzusteigen. Und am anderen Ende der Straße wird voraussichtlich das "Geistes- und sozialwissenschaftliche Zentrum" der Universität errichtet.
Angesichts des Aufstiegs an Prestige und Bedeutung dieser Straße wird aber das latente Unbehagen wach, das in der Stadt über ihren Namensgeber verbreitet ist. Immerhin war Emil Abderhalden (1877-1950) schon 1991 und nochmals zehn Jahre danach Gegenstand einer öffentlichen Entschuldigung des damaligen Leopoldina-Präsidenten Benno Parthier. Denn der Mediziner, ein gebürtiger Schweizer, war dessen Amtsvorgänger der Jahre 1932 bis 1950 und strich nach 1937 insgesamt 90 jüdische Wissenschaftler aus der Mitgliederliste. Sieben davon starben in Konzentrationslagern, 35 flohen, nur zwei kehrten nach dem Krieg nach Deutschland zurück, und keiner wollte wieder in die Leopoldina aufgenommen werden. Abderhaldens unrühmliches Verhalten ist aktenkundig.
Verbohrte Täuschung
Den Vorstand treibt er zur Eile an, wie das Protokoll einer Sitzung zum Thema "Arisierung der Akademie" im November 1938 vermerkt: "Es soll nicht zugewartet werden, bis ein entsprechender Befehl kommt". Und einen Monat später meldet Abderhalden dem Gauleiter schriftlich Vollzug: "Die Zusammensetzung des Mitgliederbestands steht in vollem Einklang mit den Erfordernissen der Zeit".
Auch in anderer Hinsicht legt sich der Name Abderhalden wie ein Schatten auf Halle, auf die Universität und vor allem die Nationalakademie. So war er Herausgeber der Zeitschrift "Ethik", die sich dem Gedanken der Rassenhygiene, der Euthanasie und der Zwangssterilisation "erblich belasteter Familien" annäherte. Und vor ein paar Jahren demontierte die Medizinhistorikerin Ute Deichmann mit einer Veröffentlichung im angesehenen Fachblatt "Nature" auch noch Abderhaldens Ansehen als ernstzunehmenden Wissenschaftler. Seine lebenslangen Forschungen auf dem Gebiet der tatsächlich nicht vorhandenen "Abwehrenzyme" seien verbohrte Selbsttäuschung und im Endeffekt Fälschung gewesen, die die Forschung jahrzehntelang in die Irre geführt hätten.
Nun kann man der Akademie nicht vorwerfen, sie habe den Fall Abderhalden nicht umfangreich aufgearbeitet. Abgesehen von der Entschuldigung Parthiers haben die hausinternen Historiker Michael und Joachim Kaasch sowie Sibylle Gerstengarbe in den Jahrbüchern und den "Acta Leopoldina" alle wesentlichen Dokumente zu Abderhalden veröffentlicht und kommentiert. Ohne die Vorwürfe zu beschönigen, haben sie dabei aber auch ans Licht gefördert, was aus ihrer Sicht für Abderhalden spricht.
So mündete seine Offenheit für das Nazi-Gedankengut zumindest nicht in der Mitgliedschaft der NSDAP. Er war auch kein Antisemit, denn er hatte von den später gestrichenen jüdischen Wissenschaftlern immerhin 37 selbst berufen. Das war Teil einer äußerst erfolgreichen Stärkung der Akademie, für die er immerhin zwölf Nobelpreisträger und ebenso viele künftige Nobelpreisträger gewann.
Auch deckt sich Abderhaldens Haltung in der Eugenik nicht mit dem NS-Wahn von der Züchtung einer höherwertige Rasse. Vielmehr stand er, wenn auch auf verquere Weise, dem Gedanken der Volksgesundheit nahe, der auch seinen aussichtslosen Kampf um Alkohol- und Nikotinabstinenz begründete.
Verbauter Blick
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte er dafür plädiert, statt knappe Ressourcen in die Pflege von Geisteskranken zu lenken, sie lieber den notleidenden Kindern zukommen zu lassen. In Halle organisierte er Erholungsfahrten für tausende Kinder in die Schweiz und die Verteilung von Land an bedürftige Familien. Dennoch kommen auch die Historiker der Leopoldina bestenfalls auf ein zwiespältiges Urteil zu Abderhalden. Sein vorauseilender Gehorsam gegenüber der Macht, sein Lavieren und Antechambrieren waren kein bloßes Kalkül zur Wahrung der Unabhängigkeit der Akademie; seine biologistische Ethik half der NS-Euthanasie den Boden zu bereiten; und ob man seiner Forschung "Fälschung" unterstellt oder nicht - sie verbaute doch anderen den Blick.
Die Frage erhebt sich, was das für den Straßennamen und damit für die Adresse von Nationalakademie und Geisteswissenschaftlichem Zentrum bedeutet. Die Leopoldina-Historiker wollen die Stadt zu keiner Umbenennung auffordern - sie halten das wiederum für Geschichtsklitterung. Zu diskutieren wäre aber ein Umgang mit Geschichte, der eine Haltung und ein Bekenntnis ausdrückt. Die Straße könnte zum Beispiel nach einem der ermordeten jüdischen Leopoldina-Mitglieder heißen. Diese Namen findet man im übrigen bis heute auf keiner Tafel am Haus der ehrwürdigen Institution, deren Wahlspruch seit 1652 "nunquam otiosus" ("niemals müßig") lautet.