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William Shakespeare William Shakespeare: Die Mona Lisa der Literatur

Von christian eger 23.04.2014, 06:39
Vor 100 Jahren aufgestellt: das Shakespeare-Denkmal in Weimar, in Marmor gemeißelt von Otto Lessing
Vor 100 Jahren aufgestellt: das Shakespeare-Denkmal in Weimar, in Marmor gemeißelt von Otto Lessing dpa Lizenz

halle (saale) - Von Mark Twain stammt der schöne Satz, dass das Schreiben einer Shakespeare-Biografie der Rekonstruktion eines Brontosaurierskeletts gleichkomme. Das werde „aus neun Knochen und 600 Fässern Gips“ zusammengefügt. Und so sei es auch bei Shakespeare: Die Zutaten überwiegen die originale Substanz.

Aber stimmt denn das? Keinesfalls, sagt Frank Günther. Mit Nachdruck streitet der in Oberschwaben lebende Shakespeare-Übersetzer gegen das „unausrottbarste“ Klischee über den Dichter, der heute vor 450 Jahren geboren wurde. Das lautet: Man weiß fast nichts über ihn.

Von wegen! „Das ist nicht nur falsch, das ist grottenfalsch“, schreibt Günther. „Es gibt (mit Ausnahme Ben Jonsons) keinen einzigen Dramatiker der Epoche, über den man so viel weiß wie über Shakespeare. Es gibt in der gesamten englischen Renaissance kein einziges bürgerliches Leben, über das so viel bekannt ist“ wie über das jenes Schriftstellers, der als Sohn eines angesehenen Handschuhmachers in Stratford-upon-Avon (auf Deutsch: Straßenfurt am Flüsschen Avon) geboren wurde, einer Kleinstadt, die als Verkehrsknotenpunkt zwischen Birmingham und London diente.

„Wllm Shaksp“

Rund 100 Dokumente gibt es, die Shakespeares Leben bezeugen, der eine äußerlich wenig aufregende, ja geradezu disziplinierte Schriftsteller-Biografie ablebte: Hochzeit 1582, drei Kinder, Veröffentlichungen seit 1593, 1602 Kauf eines Grundstückes, 1603 königliche Lizenz seiner Schauspieltruppe, 1616 Tod in Stratford. Sogar eine aktenkundige Zeugenaussage des Schriftstellers in einem Zivilprozess des Jahres 1612 ist überliefert, die einzige protokollierte mündliche Aussage Shakespeares. Das 1909 entdeckte Schriftstück ist mit einer flüssig gelieferten Unterschrift gezeichnet: „Wllm Shaksp“.

Der Nachwelt genügt das nicht. Auch in seriösen Medien wird immer wieder die Shakespeare-Frage gestellt: Gab es den überhaupt? Noch wer nichts Genaueres über diesen Autor weiß (und das sind wir fast alle), weiß doch, dass dessen historische Existenz als hoch umstritten gilt.

Wer wissen will, warum das so ist und wer eigentlich Shakespeare war, der wird von Frank Günther bestens bedient. Der Literaturwissenschaftler und Theaterregisseur legt mit „Unser Shakespeare“ das zur Zeit anregendste und bestinformierte Buch über den Schriftsteller vor, von dem die Faustregel gelten kann: Je dicker eine Biografie ist, um so unzuverlässiger ist sie, denn an den gesicherten Fakten ändert sich seit Jahrzehnten nichts, nur an ihrer Darstellung. Günther bietet keine Biografie, sondern eine Sammlung von sachlich genauen und geistreich vergnügten Aufsätzen (unter anderem: zur „Erfindung“, Herkunft, Lebenswelt und Person Shakespeares) zur Gestalt des Dichters, die jede marktgängige Biografie übertrifft. Vergesst die Lebensbeschreibungswälzer von Ackroyd (565 Seiten) und Greenblatt (512 Seiten), lest Günther, will man den Neugierigen zurufen. Woher rührt die Geheimniskrämerei um die Person des Schriftstellers, dessen Stücke in der jüngsten Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins vor den großen deutschen Klassikern liegen und sogar die Gebrüder Grimm auf die Plätze verweisen?

38 Theaterstücke

Für Günther steht fest: Das Shakespeare-Geheimnis ist eine Erfindung des rätselfreudigen 19. Jahrhunderts. Es begann um 1850, zeitgleich mit der Erfindung des Kriminalromans als literarischem Genre durch Edgar Allen Poe. „Im Detektiv, der wider dunkle Mächte die verheimlichte biographische Wahrheit aufspürt, zeigt sich das Selbstverständnis des Shakespeare-Spökenkieker“, schreibt Günther.

Der „Detektiv“ begreift sich als Gegner des akademischen Establishments. Das kann noch so oft erklären, dass man nicht nur von Shakespeare, sondern von keinem seiner berühmten literarischen Zeitgenossen wie Kyd, Greene oder Jonson ein Manuskript besitzt, und dass das völlig normal sei. Aber nicht für die Briten. Die ebenfalls um 1850 einsetzende „hysterische Vergöttlichung“ des Dichters tat ein übriges. Bis heute werden Dokumente, die man zu vermissen meint, gern selbst hergestellt. Ein Vorgang, der an die Hitler-Tagebücher erinnert.

Mehr als 80  Kandidaten für die Urheberschaft an Shakespeares Werken sind inzwischen im Gerede (von Daniel Defoe bis Maria Stuart). 1946 nahm ein Forscher auf einer spiritistischen Sitzung Kontakt mit dem Dichter auf, der ihm seine Autobiografie diktiert und verraten haben soll, wo seine Manuskripte lägen: im Grab von Stratford. Ein Stoff für Umberto Eco.

Im Gegensatz zu den Schauspielen und Sonetten, die allein Shakespeare schrieb. Der sei, zitiert Günther den Dichter T. S. Eliot , die Mona Lisa der Literatur. „So unergründlich, wie sie lächelt, so unauslösbar grübelt Hamlet.“ Doch was ist das Reizvolle an Shakespeares 38 Theaterstücken? Dessen Figuren seien immer ganz da, der Autor aber entziehe sich, sagt Günther. Da sei der Sprachmusiker, der dialektische Ironiker und die Tatsache, dass dieser Autor selbst ein Schauspieler gewesen war. Shakespeare, so Günther, verfügte über Empathie - die Kunst der Einfühlung. „Es ist etwas, was man nicht lernen kann - man hat es oder hat es nicht. Es steht über Klasse, Rang, Stand und Bildung. Es ist eine urmenschliche Gabe.“

Frank Günther: Unser Shakespeare. dtv premium, 340 Seiten, 14,90 Euro

Shakespeare-Feiern in Weimar: www.shakespeare-gesellschaft.de