Wibke Bruhns ist tot Wibke Bruhns im Alter von 80 Jahren gestorben

Halle (Saale) - Im Herbst 2017 war es so weit. Alles musste raus. Raus aus der Zwei-Etagen-Wohnung über den Dächern der Kant-Straße in Berlin-Charlottenburg, zurück nach Halberstadt - in ihres Vaters Land, in ihres Vaters Stadt, die auch die ihre war. Wibke Bruhns, 1938 geboren in der einst reichen, noch immer restschönen Stadt am Harz schleppte bis zuletzt buchstäblich schwer an der Geschichte ihrer Familie väterlicherseits, die sich 1790 in der Domstadt angesiedelt hatte. Und nun, mehr als 70 Jahre nach ihrer Flucht in den Westen, kehrte alles dorthin zurück: die Filme und Chroniken, die Tagebücher und Briefe, die Adress- und Gesangbücher.
Alles das, was einst im Archivschrank des Großvaters in der Klamrothschen Villa in Halberstadt verschlossen und nach 1989 auf dem Dach der Liebfrauenkirche wieder entdeckt worden war. 112 archivarische Positionen am Ende, in Kästen und Körbe gepackt. „Meine Kinder“, sagte Wibke Bruhns über ihre zwei erwachsenen Töchter, „wollen sich nicht damit beschäftigen. Die husten mir was.“
Plasberg über Wibke Bruhns: „Helmut Schmidt des deutschen Journalismus“
Die Frau, die TV-Moderator Frank Plasberg „die Helmut Schmidt des deutschen Journalismus“ nannte, war nie eine Freundin vager Entschlüsse. Gemeinsam mit ihrer Nichte karrte Bruhns in einem Kleinwagen den Inhalt des Klamroth-Schrankes nach Halberstadt, um ihn dem Historischen Archiv der Stadt zu schenken. Ein Glücksfall für die Stadt, die mit der Geschichte der Unternehmerfamilie Klamroth vielfach verbunden ist.
Mit Handel, Landwirtschaft und Speditionsdiensten machte der Clan ein Vermögen. Das 1911 von dem Berliner Star-Architekten Muthesius gebaute Wohnhaus der Familie zeugt von deren Wohlstand. Das heutige Parkhotel Unter den Linden ist das Haus, in dem Wibke Bruhns geboren worden war, errichtet von ihrem Großvater Kurt Klamroth. Als ihre Enkelin 13 Jahre alt gewesen sei, erzählte Wibke Bruhns, habe sie ihr das Hotel gezeigt. Von oben bis unten lief das Kind durch das Haus. „Oma, wart ihr reich?“, fragte es. „Ja, wir waren reich.“ „Oh, gehöre ich auch dazu?“ „Ja, du gehörst auch dazu.“
Wibke Bruhns veröffentlichte das Erinnerungsbuch „Meines Vaters Land“
Halberstädter Bürger-Adel. Exponenten einer gehobenen Mittelschichten-Kultur, die es nach 1945 vom Osten weg in den Westen zog, um nach 1989 mit in Büchern und Filmen gefassten Legenden besuchsweise zurückzukehren. 2004 veröffentlichte Wibke Bruhns das Erinnerungsbuch „Meines Vaters Land“, ein Werk, das ohne den Klamrothschen Archiv-Fund nicht möglich gewesen wäre. Kaum ein Tagesereignis, das nicht verschriftlicht worden und in Kästen verstaut worden war, denen die Gestalt von dicken roten Büchern gegeben wurden. Aus diesen schöpfte Wibke Bruhns ihr eigenes Buch, das ein internationaler Bestseller wurde, übersetzt in 19 Sprachen.
Es ist ein Buch des kollektiven und persönlichen Gedenkens. Erstaunlich nicht nur für die linke Journalistin Wibke Bruhns, die im ZDF 1971 als erste Frau im Westen die TV-Hauptnachrichten sprach (der Osten war acht Jahre früher dran). Nichts, sagte sie, sei ihr fremder gewesen, als irgendeine Rücksicht auf Familie.
Das änderte sich 1979. Bei einem Einsatz als Auslandskorrespondentin hatte sie zufällig ihren als NS-Gegner hingerichteten Vater in einer Fernsehdokumentation über das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 gesehen: ein schmaler scheuer Mann, als Angeklagter dem „Volksgerichtshof“ ausgeliefert in Gestalt des tobenden Blutrichters Freisler. An diesem Tag beschloss Wibke Bruhns: „Ich kümmere mich um dich“.
Sozialdemokratin Wibke Bruhns machte Karriere im Medien- und Kulturbetrieb
Hans Georg Klamroth, Mitglied von NSDAP und SS, war ein Mit-Wisser, nicht Mit-Täter der Männer um Stauffenberg, eine Unterscheidung, auf die seine Tochter wert legte - und die ihrem Vater trotzdem das Leben kostete. In ihrem Buch erzählt Wibke Bruhns nicht von ihrem Vater aus, sondern auf diesen hin. Sie schildert eine zwei Jahrhunderte währende Landnahme, ein Breitwandepos, das im 19. Jahrhundert seine besten Jahre hat, „als die Welt sich den Altvorderen wie ein reifes Zuckerrübenfeld darbot.“
Die Selbstsicherheit und auch -gewissheit ihres Herkunftsmilieus hat sich Wibke Bruhns immer erhalten. Sozialdemokratin seit dem Studium, machte sie Karriere im westdeutschen Medien- und Kulturbetrieb. Ihr Lebensmotto: Alles regelt sich irgendwie. Nach einem abgebrochenen Volontariat bei der „Bild“-Zeitung ging die Willy-Brandt-Verehrerin zum ZDF.
Ihre Zeit als Nachrichtensprecherin sei ein „hundsmiserabler“ Job gewesen, sagte sie später. Größere Schritte machen, das wollte sie stets. Von 1973 an arbeitete die Frau mit der praktisch blonden Kurzhaarfrisur für den WDR, ging für das Magazin „Stern“ als Nahost-Korrespondentin nach Israel, präsentierte wieder Nachrichten beim Sender Vox und leitete die Kulturredaktion beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg. Schließlich war Bruhns Sprecherin der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover.
Wibke Bruhns hatte keine Erinnerungen an Kindheit in Halberstadt
Lebendige Erinnerungen an das Kindheits-Halberstadt besaß Wibke Bruhns keine. Die waren ausgelöscht worden in der Bombennacht im April 1945. Hier half auch keine Psychoanalyse. Die Erinnerungen holte sich Bruhns aus den Papieren. In ihrer Wohnung nahe am Savigny-Platz standen ein barocker Schreibsekretär und ein Archivschrank aus Halberstadt, wie der Kronleuchter Souvenirs der Familie. Die Tatsache, dass sie immer mehr zu einem „Familientierchen“ heranwuchs, hat Wibke Bruhns selbst am meisten überrascht. Kein Familienmitglied war zu weit entfernt verwandt, um von ihr nicht wenigstens zu einem kleinen Frühstück befohlen zu werden, wenn sie auf einer Lesereise in der Nähe war.
„Kinder“, schrieb Wibke Bruhns in ihrem Vater-Buch, „interessieren sich für ihre Eltern nur als Ressource. Das Verhältnis ist Ich-bezogen: Wie weit werde ich beschützt, versorgt, gefördert. Wer die Eltern sind, was sie fühlen, ob sie glücklich sind, geht an Kindern vorbei.“ Auch Familie sei eine Ressource, sagte Wibke Bruhns. Als ihre Töchter geboren wurden, habe sie gemeint, 20 Jahre, dann sei es vorbei. Von wegen. Später habe sie fast täglich mit ihnen telefoniert.
Was Ressource sei? Beistand, sagte Wibke Bruhns, das selbstverständliche „Ich bin für dich da“. An dieser Ressource hat Wibke Bruhns, die noch im Dezember 2017 das zurückgebrachte Familienarchiv im Halberstädter Gleimhaus präsentieren konnte, bis zum Schluss gearbeitet. Am Donnerstagabend ist sie im Alter von 80 Jahren gestorben. (mz)