Weniger nackte Tatsachen Weniger nackte Tatsachen: FKK-Kultur auf dem Rückzug?

Halle (Saale) - Kommt das Ost-West-Gespräch auf die Beliebtheit, die die Freikörperkultur in der DDR genoss, wird oft gefragt, warum die DDR-Bürger so zahlreich an die FKK-Strände strömten. Zuerst: weil sie es konnten. Außerdem war die textilfreie Zone ein streng demokratischer Mikrokosmos: Autoritäten, die den Alltag der Menschen bestimmten, zählten hier nicht - Orden und Parteiabzeichen haften nun mal nicht auf blanker Haut.
Die FKK-Kultur wurde in der DDR auch so breit gepflegt, weil sie eine Unschuld besessen hat, die heute - wegen des grundlegend gewandelten Verständnisses von Nacktheit - so nicht mehr gegeben ist. „Nacktheit ist natürlich und völlig unerotisch“, sagt der Kurt Starke, der die Forschungsstelle Partner- und Sexualforschung in Leipzig leitet. Und genauso wurde sie zu DDR-Zeiten bei all jenen, die die Hüllen fallen ließen, wahrgenommen und vor allem in den Schulferienmonaten Juli und August gelebt.
FKK-Befürworter loben praktische Vorzüge
In vielen DDR-Familien war es selbstverständlich, jedes Jahr an die Ostsee zu fahren und dort am FKK-Strand die vier Elemente zu genießen: Licht, Luft, Wasser und Erde, hier: den feinen Seesand. Eine zeitweise Rückkehr zur Natur mit einfachsten Mitteln.
Dieses unkomplizierte Verhältnis zur Nacktheit fand, im Gegensatz zu heutigen Gepflogenheiten, nur selten den Weg in die Medien. Eine Ausnahme bildete die DDR-Unterhaltungssendung „Außenseiter - Spitzenreiter“. Die schickte einmal Moderator Hans-Joachim Wolle an einen Usedomer FKK-Strand, um Nackedeis zu fragen, ob sie schon Weihnachtsgeschenke gekauft hätten, und mit ihnen das Lied „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ im Chor zu singen.
Die Befürworter der Freikörperkultur aller Zeiten weisen gern darauf hin, dass der Sommer an einem FKK-Strand noch einen ganz praktischen Vorzug habe: Im Gegensatz zum Textilbereich muss man sich nicht mit Badebekleidung quälen, die, gleich ob nass oder trocken, ebenso schwierig an- wie auszuziehen ist. Ebenso entfällt das schamvolle Verhüllen mit einem Badetuch beim Wechseln von Textilien.
Gregor Gysi bedauert im Playboy den Rückzug der Nacktheit
Daran wurde erinnert, wer in den letzten kühlen Tagen die erhitzten Gemüter derer vernahm, die der Frage nachgingen, warum die Freikörperkultur (FKK) in der Gunst der Deutschen verloren habe. Angestoßen hatte die Diskussion einer, von dem man ein Plädoyer auf die Nacktheit an Meer und See wohl kaum erwartet hätte: Gregor Gysi.
Der Linke-Politiker äußerte erst in der Zeitschrift „Playboy“, dem Zentralorgan für die weibliche Nacktheit, dann in der „Bild“-Zeitung sein Bedauern, dass die Freikörperkultur auf dem Rückzug begriffen sei. Es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen, es sei an der Zeit, wieder mehr Nacktheit zu wagen, erklärte Gysi und ergänzte: „Da kann der Westen was vom Osten lernen.“
Unterstützung erhielt der 69-Jährige von der Journalistin Else Buschheuer. Unter dem Hashtag #nacktfuergysi versuchte sie bei Twitter einen Trend zu setzen: „Ich gehe voran. Wer macht mit?“, schrieb Buschheuer (51). Dazu postete sie ein Bild, das sie, freilich fern am Horizont, unbekleidet am Strand zeigt. Gysi teilte Buschheuer ebenfalls per Twitter mit, sich selbst nur unter einer Voraussetzung nackt fotografieren zu lassen: „Ich mache es erst, wenn es auch Angela Merkel macht.“ Nun ja.
Wissenschaft: Viele Gründe für schwindende FKK-Lust
Da Gysi bislang nicht als bekennender Nudist aufgefallen ist - auch wenn ihn die „Bild“-Zeitung umgehend zum „Nacktivisten“ ernannte - stellt sich die Frage, weshalb der Linke-Politiker zum Ausklang eines meteorologisch eher durchwachsenen Sommers die Freikörperkultur als Thema entdeckt.
Man ahnt es: Der Wahlkampf ist im Gange, doch er lahmt, weil dem Monolithen Angela Merkel nirgends Konkurrenz droht. Eine Wechselstimmung ist bei den Deutschen ohnehin nicht erkennbar. Wie für FDP, Grüne und AfD sind auch die Umfragewerte für Die Linke nicht eben sensationell, so dass jede Thematik, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, eine gute ist.
Warum also nicht mit dem Niedergang der Freikörperkultur das mediale Interesse auf sich ziehen, mag sich Gysi gedacht haben. Denn mit der Forderung nach einer EU-Quote für Elektroautos, die dieser Tage SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ins Spiel brachte, lockt man keinen Urlauber aus dem Strandkorb.
Doch einmal als Aufregerthema erkannt, wurden sogleich Wissenschaftler zum Phänomen Nacktkultur befragt. Ja, eine FKK-Müdigkeit sei erkennbar. Die Gründe dafür seien jedoch vielschichtig. „FKK ist sicherlich nicht totzukriegen, das ist die gute Nachricht“, sagt der Merseburger Sexualwissenschaftler Konrad Weller. Den Rückgang der FKK-Lust erklärt er mit einem Wertewandel: „In den letzten Jahren der DDR hatten 90 Prozent der Jugendlichen FKK-Erfahrungen. Im Jahr 2013 war es nur noch die Hälfte.“
Auch durch das mediale Dauerfeuer mit nackten Leibern gehe die FKK-Beliebtheit zurück, weiß Weller. Die unbekleideten Menschen in den Medien, so dürfen wir die Worte deuten, sind stets ranke und schlanke Wesen, während sich am FKK-Strand das Menschlich-Allzumenschliche präsentiere, das keineswegs Traummaße aufzuweisen habe.
FKK als Auslaufmodell?
Sollte also ausgerechnet die ständige mediale Präsenz von schönen nackten Tatsachen dazu führen, dass eine neue Schamhaftigkeit um sich greift, weil die meisten Menschen ihren Körper als Makel empfinden?
Anders die Argumentation von Kurt Starke. Dass man auch am FKK-Strand immer öfter knappes Textil sähe, läge daran, „dass die West-Männer mit ihrem sexualisierenden und pornografisch geschultem Blick die Frauen beim FKK irritierten“, erklärte der Sexualforscher der „Bild“.
Und im Gegensatz zu seinem Merseburger Kollegen sieht Starke in der Freikörperkultur ein Auslaufmodell: „Aktiv sind eigentlich nur noch ältere Generationen. Das sind nur noch trotzige Reste.“ Ob die FKK-Ära zu Ende geht, haben zum Glück nicht Wissenschaftler zu entscheiden, sondern die Sonnenanbeter zwischen Boltenhagen und Ahlbeck.
Wenn man Heinrich Heine (1797-1856) glaubt, sind wir ohnehin alle Nudisten. Denn der Dichter formulierte in seinen „Reisebildern“ im Abschnitt über die Nordsee-Insel Norderney diesen Gedanken: „Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unsern Kleidern.“ (mz)