Saalekreis Saalekreis: Biografie über Mut in schweren Zeiten
Teutschenthal/MZ. - Eine nächtliche Zugfahrt. Vater und Tochter sind unterwegs in ein Kurbad. Da betritt ein eleganter Herr das Abteil. Man kommt ins Gespräch. Das Gesicht des Fremden bleibt im Dämmer. Doch umso eindringlicher hört das junge Mädchen seine Stimme. Die sagt plötzlich: "Sie sind eine Frau mit Herz!" Und trifft sie damit mitten in dasselbe! Ein Jahr später sind die beiden Mann und Frau und leben glücklich und in Freuden - auf einem richtigen Schloss. Denn mit dem charmanten Unbekannten hatte die junge Schöne eine Art Märchenprinz erobert.
Eine Story, die glatt als Plot einer kitschigen Ufa-Schmonzette aus den Dreißigern durchgehen könnte. Wohl spielt die Geschichte genau in jener Zeit - aber sie ist wahr. Nach dem filmreif romantischen Start gewinnt sie jedoch binnen kurzem und für lange Zeit dramatische, ja tragische Dimensionen.
In der Ich-Form sind die Erinnerungen von Lore Pfeiffer-Wentzel gehalten. Die jetzt Neunzigjährige hat sich bei der Niederschrift der Unterstützung einer Profi-Biografin versichert. Ein angenehm privater Erzählduktus blieb gleichwohl gewahrt. In schlichten, klaren Sätzen werden die Ereignisse in stringenter Abfolge geschildert. Wie ein Tagebuch liest sich das, manche Passagen so eindringlich wie eine persönliche Ansprache, wenn Lore Pfeiffer-Wentzel "Mein Leben zwischen Willkür und Glück" vor dem Leser ausbreitet.
Er erfährt die Geschichte der Arzt-Tochter Lore Petzhold, die behütet und verwöhnt in Halle aufwächst. Mit zwanzig Jahren begegnet sie 1940 Carl-Friedrich Wentzel und heiratet ihn bald. Der zehn Jahre Ältere ist einer der reichsten Erben Mitteldeutschlands. Einziger Sohn von Carl Wentzel, dem weithin als "Zuckerkönig" oder auch "Krupp der Landwirte" bekannten Unternehmer, Herrscher über den seinerzeit größten Agrar-Industrie-Betrieb des damaligen Deutschen Reiches. 21 Güter, mehr als 10 000 Hektar Land, 40 000 Angestellte - ein Imperium mit der Zuckerrübenproduktion als Grundlage.
Für ihren Schwiegervater ist die lebhafte und bildschöne Lore schon bald das "Töchterchen". "Die würde ich auch heiraten", hatte er zu seinem Sohn gesagt. Er schätzt die Schwiegertochter sehr, die sich gewandt und tüchtig als Gutsfrau auf Schloss Schochwitz bewährt. Kurios: Sie entspricht damit auch den Bewertungen eines graphologischen Gutachtens, das ihr Zukünftiger vor der Ehe eingeholt hatte. Im Buch ist der Originaltext wiedergegeben und erscheint wie der ganze Vorgang dieses Tests auf Gattinnen-Tauglichkeit befremdlich. Doch hat der Graphologe dem Schriftbild der Schreiberin Lore auch entnommen, dass sie "ein recht mutiges Herz" habe. Das hat sie im Verlaufe ihres Lebens wahrhaftig brauchen können und eindrucksvoll bewiesen, auch unter widrigsten Bedingungen.
Noch waren allerdings gravierend schicksalhafte Wendungen nicht abzusehen in jenen ersten Ehejahren. Der Krieg bleibt fern, das private und gesellschaftliche Leben der Wentzels läuft fast wie in Friedenszeiten. Als 1944 der Enkel Carl-Stefan geboren wird, scheint das Glück vollkommen. Doch dieses Jahr wird zum dramatischen Wendepunkt für alle Wentzels. Im Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler vom 20. Juli wird Carl Wentzel von der Gestapo abgeholt. Vorwurf: Hochverrat. Er habe "Werbereden gegen den Führer" auf seinem Schloss zugelassen und Gäste wie Carl Goerdeler empfangen, der 1937 als Leipziger Oberbürgermeister aus Protest gegen die Nazis zurückgetreten war und als "ziviler Kopf des 20. Juli" zum Gründer der nach ihm benannten Widerstandgruppe wurde.
Carl Wentzel wird nach einem Schauprozess vor dem so genannten Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Seine Frau Ella kommt ins KZ Ravensbrück, der Sohn Carl-Friedrich ins Eisleber Gefängnis in Sippenhaft. Sämtlicher Besitz wird enteignet. So weit die Fakten, wie sie aus Geschichtsbüchern, Gedenkreden und wissenschaftlichen Abhandlungen bekannt sind. Klar nachgewiesen sind auch die Hintergründe, weshalb die Nazis den Unternehmer aus dem Weg haben wollten und welch teuflische Rolle der SS-General Ludolf von Alvensleben dabei spielte, um das an Wentzel verpachtete Gut Schochwitz wieder an sich reißen zu können.
Folgenschwere Ereignisse von historischer Tragweite. Doch Lore Pfeiffer-Wentzel war dabei, unmittelbar betroffen. Entsprechend lebensnah sind ihre Schilderungen. Oft sind es ja gerade scheinbar banale Details, die Gefühle und Stimmungen über die Zeiten nahebringen. Entsprechend folgt man diesen Lebenserinnerungen mit Anteilnahme. So, wenn Lore Pfeiffer-Wentzel schildert, was sie alles unternahm, um die Leiden der Ihren wenigstens erträglicher zu machen. Da scheute sich die damals 25-Jährige nicht, ausgerechnet Alvensleben um Unterstützung bei der Rettung ihrer Schwiegereltern und ihres Mannes anzuflehen. Später gelang es ihr, die Schwiegermutter im Gefängnis zu besuchen. Mehrfach drang sie sogar ins berüchtigte Gestapo-Hauptquartier vor, um einen Besuch bei ihrem Schwiegervater zu erzwingen.
Tatsächlich war Lore die letzte Angehörige, die Carl Wentzel lebend sah. Elend, entwürdigt: ". . . mit einer Hand seine Hose haltend, da man ihm weder Gürtel noch Hosenträger gelassen hatte". Unerschrocken und mit dem Mut der Verzweiflung begegnete Lore Pfeiffer-Wentzel dem Schicksal. Das ist ebenso bewegend und mit Spannung zu lesen, wie die weiteren Stationen ihres Lebens. Der schwere und doch hoffnungsvolle Versuch eines Neubeginns, als nach dem Krieg zunächst unter den Amerikanern das Wentzelsche Eigentum zurückgegeben wurde. Die zweite Enteignung unter den sowjetischen Besatzern. Die Flucht in den Westen. Ein weiterer Neustart. Die Trennung von ihrem Mann, der sich einer Anderen zuwandte, mit ihr einen weiteren Sohn - Carl-Friedrich - bekam. Für Lore wurde indes eine Tätigkeit als reisende Handelsvertreterin zum "Tor in ein neues Leben". Jahre später in Düsseldorf eine neue Ehe, ein neues Glück mit Kindern und Enkeln. Das recht mutige Herz - es war wohl oft gefragt. Auch nach der Wende wieder, als es galt, den zweifach enteigneten Wentzelschen Besitz wenigstens zu Teilen für die Nachkommen zu erhalten. Was nach vielen Verhandlungen im Zuge des Einigungsvertrages, der Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Erben die Eigentumsrückgabe zugesteht, auch gelang. "Wenn ich heute nach Teutschenthal komme, ist es für mich, wie nach Hause zu kommen", sagt Lore Pfeiffer-Wentzel. Nach der Lektüre ihres Buches ahnt man die Gedanken, die sie dabei bewegen.