Documenta 16 in Kassel Nach dem Skandal
Die Weltkunst-Schau documenta 16 hat eine Chefin: Nach dem Skandal um die vorherige Ausstellung liegen nun alle Hoffnungen auf der US-Amerikanerin Naomi Beckwith.
Kassel/MZ - Das muss man wohl einen Befreiungsschlag nennen: Die seit 1955 in Kassel veranstaltete Kunstschau documenta will sich neu erfinden, um ihren großen, zuletzt angeschlagenen Ruf wiederherzustellen. Dafür hat der Aufsichtsrat der documenta jetzt eine international renommierte Kuratorin als Künstlerische Leiterin bestellt: die US-Amerikanerin Naomi Beckwith. Die 48-Jährige ist unter anderem stellvertretende Direktorin am Solomon R. Guggenheim Museum and Foundation in New York. Sie soll, muss und wird es wohl richten in Nordhessen. Es geht dabei um verdammt viel.
Großer Anspruch an Documenta 16
Immerhin ist es der erklärte Anspruch der documenta, neben der Biennale in Venedig die zweite große Ausstellung zeitgenössischer Weltkunst überhaupt zu bieten. Davon war man, auch schon vor der von antisemitischen Skandalen erschütterten documenta fifteen, ein ganzes Stück entfernt.
In Venedig ist 2022 und zuletzt auch in diesem Jahr wieder eindrucksvoll gezeigt worden, dass das Künstlerische und das Politische zusammengehen und Diskurs-Räume öffnen können. In Kassel hingegen wirkte zuletzt vieles beliebig, banal, aufgesetzt und vor zweieinhalb Jahren auch empörend, als den Verantwortlichen der documenta aus dem Ruder lief, was von dem indonesischen Kuratoren-Kollektiv „ruangrupa“ angerichtet worden war. Dass zur Freiheit auch Respekt gehört und Propaganda nicht zur Kunst, wurde erst diskutiert, als das Kind bereits in den Brunnen gefallen war.
Sven Schoeller (Bündnis 90/Die Grünen), Kassels Oberbürgermeister und Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrates, hat jetzt bei der Vorstellung von Naomi Beckwith als Chefin für die 2027 startende documenta 16 gesagt, die Kunstschau habe zuletzt eine ihrer schwersten Krisen, wahrscheinlich die schwerste überhaupt, erlebt: „Es gab nicht wenige, die die documenta bereits totgesagt hatten“, summierte Schoeller den erlebten Schrecken. Nun soll alles anders und natürlich besser werden. Naomi Beckwith, die von einer erst im Juli dieses Jahres komplett neu aufgestellten Findungskommission renommierter Fachleute unter fünf verbliebenen Bewerberinnen und Bewerbern gekürt wurde, ist dafür eine Bank. Dass der Bund nun wieder im Aufsichtsrat vertreten ist (was man früher in Kassel nicht so wichtig oder sogar überflüssig fand), kommt hinzu: Schließlich ist die documenta keine regionale Talente-Börse, sondern tritt bei einer Art Weltmeisterschaft in Sachen ambitionierter Gegenwartskunst für die Bundesrepublik Deutschland an.
Nach dem Eklat wegen antisemitisch gefärbter Agitprop-Kunst bei der documenta fifteen lagen die Nerven blank. Vor der Einsicht, dass man die Karre krachend gegen die Wand gefahren hatte, standen jammervolle Erklärungen („Wenn wir das vorher gewusst hätten...“) und trotzige Muskelspiele („Kassel kann das auch alleine“) der alten Leitungsgremien.
Genug davon. „Mit Ruhe, Besonnenheit und inhaltlicher Stringenz“ habe man die Dinge angepackt, wie Aufsichtsratschef Sven Schoeller fast beschwörend sagt. Pünktlich wie ein Maurer hatte documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann am Mittwoch die Pressekonferenz eröffnet. Er scheint sich mit Schoeller und dem hessischen Kulturminister Timon Gremmels (SPD) vor ihren Verlautbarungen auf ein Lieblingsattribut geeinigt zu haben, das alle überzeugen soll: Die Findungskommission, der eigens geschaffene wissenschaftliche Beirat und natürlich die neue Künstlerische Leitung der documenta sind allesamt hochkarätig.
Wiederholte Beschwörung
Das ist wohl zutreffend, aber in der Wiederholung klingt es auch ein bisschen so, als müsste man es den Zweiflern, die schon das Totenglöcklein läuten hörten für Kassels Aushängeschild documenta, noch extra hinter die Ohren schreiben.
Und Naomi Beckwith, die in nur zweieinhalb Jahren ein Wunder vollbringen soll? Sie lächelt liebenswürdig, bedankt sich für das Vertrauen. Wahrscheinlich ist sie in Gedanken längst dabei, die Schau zu konfigurieren, die vom 12. Juni bis zum 19. September 2027 laufen wird – die berühmten 100 Tage lang, wie immer.
Die neue Chefin ist freundlich, aber glasklar in der Sache: „Ich habe keine Toleranz gegenüber Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung“, sagt sie. Als schwarze Amerikanerin wird sie wissen, wovon sie spricht. Und sie weiß, was sie will: Ein interkulturelles Gespräch, um herauszufinden, wie man den Krisen und Gefahren der Gegenwart begegnen und sich sich für die Zukunft orientieren kann.
Das klingt schlüssig. Nun wird man abwarten müssen, ob es gelingt. Naomi Beckwith, der Stadt Kassel samt ihren Gästen und der documenta wäre es zu wünschen.