Literatur Literatur: «Wir entdecken den Vater»
Halle/MZ. - Im März im Aufbau Verlag veröffentlicht, ist das Buch in fünfter Auflage unterwegs. Erstaunlich für ein 768-Seiten-Werk, das in der DDR nicht erscheinen durfte. Und nun das: volle Säle, starkes Echo.
"Mein Leben hat sich verändert", sagt Claus Bräunig. Von der Familie ist der 46-Jährige als Sprecher auserwählt worden. Nur auf die öffentlichen Podien steigt der studierte Biologe ungern, der sich beruflich mit der Situation der Fische in den Fließgewässern Sachsen-Anhalts befasst. Der Vater von drei Kindern lebt in Halle, jener Stadt, in der sein Vater 1976 mit 42 Jahren gestorben ist. Verzweiflung wirkte da, von Alkohol befeuert.
Fortgesetztes Gespräch
Darüber, dass Werner Bräunig auch an der Ablehnung seines Romans zugrunde ging, muss man nicht lange reden. "Es gab keine Lösung für ihn", sagt sein Sohn. "Als Erzähler wird man erst wahrgenommen, wenn man einen Roman hinlegt." Genau das wurde Werner Bräunig verweigert. 1965 diente das vorveröffentlichte "Rummelplatz"-Kapitel als Steilvorlage für das "Elfte Plenum", das eine im Osten bis heute nachwirkende kulturelle Versteppung auslöste. Ohne Nennung von Gründen löste der Mitteldeutsche Verlag 1967 den Vertrag über das furiose Werk, das den Alltag der Wismut-Kumpel mit dem der DDR-Elite, das Ostberlin und Bonn zusammendachte. Wer heute das aus dem Nachlass rekonstruierte, mit Wucht und Können hingelegte Buch eines damals Anfang-30-Jährigen liest, begreift, dass man an der Auslöschung einer solchen Leistung sterben kann.
Claus Bräunig, Sohn aus der zweiten Ehe, war vier, als sein Vater 1965 in das kulturpolitisches Visier geriet. Sechs, als die Familie von Leipzig weg nach Halle zog. Zehn, als sich die Ehe seiner Eltern löste. Fünfzehn, als sein Vater zu Grabe getragen wurde. Einen Bruder hat Claus Bräunig und drei Schwestern aus der ersten Ehe seines Vaters. Der Erfolg des Buches hat die verstreute Familie neu aufgestellt. Gespräche, die unmöglich waren, geraten plötzlich in Fluss. "Wir entdecken den Vater", sagt Claus Bräunig. Und mit ihm einen Menschen, den er so beschreibt: humorvoll und charmant, fleißig, wach und tapfer ("Er ist nicht zu Kreuze gekrochen"), den eigenen Kindern bedingungslos zugetan.
"Einerseits freue ich mich, dass das Buch draußen ist", sagt Claus Bräunig. "Andererseits hätte ich das beeindruckende Echo gern meinem Vater gegönnt. Die Tatsache, dass er nicht als ein DDR-Exot, sondern als ein gesamtdeutscher Schriftsteller betrachtet wird. Dass er nicht politisch, sondern literarisch beurteilt wird. Von nicht wenigen Lesern wird sein Roman als der Lückenschluss für die erzählerische Gestaltung der 50er Jahre in der DDR begriffen." Tatsächlich stellt sich Bräunigs "Rummelplatz"-Roman wie selbstverständlich neben die großen, zeitgeschichtlich angeregten Romane seines Jahrgangskollegen Uwe Johnson, der 1959 die DDR verließ. Über alle Differenzen im Weltanschaulichen hinweg. Johnson war kein Sozialist. Bräunig schon. Ein Umstand, der alles nur zusätzlich erschwerte. Wo von Falschheit nicht gesprochen werden durfte, war von "Parteidisziplin" die Rede. Niemand, sagt Claus Bräunig, redete mit seinem Vater Klartext darüber, was mit dem Manuskript geschehen wird. In den Stasi-Akten fand der Sohn nun den Eintrag, dass Mielkes Stellvertreter befahl, dass alles zu unternehmen sei, eine Veröffentlichung des Buches zu verhindern.
Ein Brief von Grass
Die vergangenen Monate: Das waren für Claus Bräunig die so anrührenden wie erhellenden Begegnungen mit den Autorenfreunden seines Vaters. Mit Christa und Gerhard Wolf in Berlin, mit Inge Heym, die das Drehbuch zur Bräunig-Erzählung "Gewöhnliche Leute" verfasste. Mit Helmut Richter und Peter Gosse in Leipzig. Günter Grass teilte im Brief mit, dass ihn die Lektüre des Romans beeindruckt habe.
Es ist ein auch aufwühlendes Jahr, das hinter Claus Bräunig liegt. Mit dem Sichtbarwerden des Vaters wächst der persönliche Verlust. "Man erlebt das alles noch einmal", sagt der Sohn. "Begreift die Verhältnisse, die einem den Vater genommen haben." Der sei standhaft nach außen gewesen, aber zu schwach, um sich selbst am Leben zu erhalten. Da gibt es nichts gut zu machen, nur zur Kenntnis zu nehmen. Aus der nachkriegsdeutschen Literatur kann Werner Bräunig nicht mehr vertrieben werden. Im Frühjahr soll die Prosaauswahl "Gewöhnliche Leute" erscheinen.