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Literatur und Geschichte Literatur und Geschichte: Die poetischen Mitschriften einer furchtbaren Erinnerung

Von Klaus Pankow 21.12.2005, 18:43

Berlin/MZ. - Sein Verlag erfuhr davon erst durch eine Nachfrage beim Einwohnermeldeamt Berlin-Pankow, dort war er - noch - Mieter einer kleinen Wohnung.

Walsdorf war ein Fall für das Sozialamt; aber das ist eine lange Geschichte. Die ehemaligen Genossen der Meldebehörden in Königs Wusterhausen und Berlin (DDR) werden sich vielleicht an den Problembürger erinnern. Keine Wohnung, keine "richtige" Arbeit, Zuführungen durch die Volkspolizei, Aufenthaltsverbote für die Hauptstadt. Walsdorf wurde 1951 in Zittau geboren, ist in Heimen aufgewachsen und schlug sich in DDR-Zeiten mit Gelegenheitsarbeiten durch. Anschluss an literarische Szenen hat er nie gefunden, aber auch nie gesucht. Sein Werk harrt der Neuentdeckung, denn er war ein großer Dichter.

Franz Fühmann hat dies als erster erkannt und ihn Anfang der 80er Jahre in "Sinn und Form" vorgestellt. Neben Kinderbüchern, Dramatik und Hörspielen erschienen in dichter Folge Lyrikbände wie "Der Wind ist auch ein Haus" (1981), "Im gläsernen Licht der Frühe" (1983), "Über die Berge kam ich" (1987). Im Bändchen "Grün weht der Lärm ins Land", das ausgerechnet in der Reihe der "Trompeterbücher" erschien, heißt es in einem Gedicht: "Geh in die Welt / nimm deinen Stock und wandre / und hol dir ein Gesicht / das ein Leben lang reicht."

Ich habe Lothar Walsdorf Ende 1990 in Berlin kennen gelernt. Für einen kleinen Verlag in Freising suchte ich nach Manuskripten. So kam es zu vielen Gesprächen im Henschel Verlag, denn Walsdorf besaß in dieser Zeit keine Wohnung. Aus einem chaotischen Textkonvolut entstand der Prosaband "Geh und vergib nicht. Eine Erinnerung" (1991). Beim Wiederlesen bleibt es dabei: Das ist ein großartiges Buch. In atemloser, beklemmender Sprache wird eine Kette von Demütigungen heraufgerufen. Das Heimkind Walsdorf hatte ein furchtbares Gedächtnis. Lutz Rathenow und Konrad Franke haben den Band zustimmend rezensiert. Das Buch ging - wie sein Verlag - in der Nachwendezeit verloren.

Heiner Müller erinnert sich im Gespräch mit Frank M. Raddatz an eine Szene, die Walsdorf auch in "Geh und vergib nicht" aufgenommen hat: "Auf einem Klo in Königs Wusterhausen bei Berlin wollte ein zwölfjähriger Junge pinkeln, hatte aber kein Geld. Da sagte die alte Klofrau: ,Wenn du kein Geld hast, kannst du auch nicht pinkeln.' Und er: ,Ich muss aber.' Darauf die Klofrau: ,Das kann jeder sagen. Hier kann doch nicht jeder machen, was er will. Ich bin sechzig Jahre alt und habe noch nie getan, was ich wollte.' Das ist die Basis des Faschismus, der totalitären, aber auch der demokratischen Systeme." Traurige Legenden sind übrigens fehl am Platz: Holte sich Walsdorf die ihm zustehende Sozialhilfe ab, verschwand er oft umgehend zum Flughafen und dann zum Beispiel in den Bergen Kurdistans. So hat er fast die halbe Welt gesehen. Nach Wochen kam er dann abgerissen und abgemagert zurück; der Spruch der Toilettenfrau aus Königs Wusterhausen interessierte ihn nie mehr.

Klaus Pankow arbeitete früher als Lektor und heute im Presseamt der Stadt Halle.