Lindenberg-Musical "Hinterm Horizont" Lindenberg-Musical "Hinterm Horizont": Begegnung mit dem Mädchen aus Ost-Berlin

Berlin - Vielleicht wird man Udo Lindenberg eines Tages daran erinnern müssen, dass er die Geschichte auf der Bühne nicht selbst erlebt hat. Der Sänger verlässt ja seine Kunstfigur nur noch selten, und um das Musical "Hinterm Horizont" hat er sich so gründlich gekümmert, dass schon vor der Premiere am Mittwochabend ganze Verschmelzungsprozesse zu beobachten waren.
In dem Stück spielen von Lindenberg erfundene Figuren die Hauptrollen - Udo und das Mädchenaus Ost-Berlin. Dennoch wird hier nicht „meine eigene Romeo-und-Julia-Story“ bebildert, wie er immer überzeugender zu Protokoll gibt. „Hinterm Horizont“ - am Mittwoch lief die Medienpremiere im Theater am Potsdamer Platz- ist eine ausgedachte Geschichte, für die Bühne ersonnen von dem Autor Thomas Brussig („Sonnenallee“).
Eine Ost-Liaison mit Nachwuchs bei Lindenbergdarf jedoch bezweifelt werden. Bei seinem Auftritt am 25. Oktober 1983 im Palast der Republik jedenfalls lernte er das Mädchenaus Ost-Berlin nicht kennen - über das singt er schon seit 1973.
Mit diesem Tag steigt das Ost-West-Stasi-Mauer-und-Liebes-Musical in das Geschehen ein. Udo Lindenberg verteufelt öffentlich Raketen in Ost und West, die 17-jährigeJessy steht als Sängerin im FDJ-Chor auf derselben Bühne. Sie blicken sich an, sie heben kurz ab - von nun an wird Jessy von Udo träumen. Zur selben Zeit knüppeln Polizisten Jessys Bruder vor der Tür nieder, einen Fan ohne Eintrittskarte. Später wird er bei dem Versuch verhaftet, einen Liebesbrief seiner Schwester an Udo in den Westen zu versenden.
Um ihren Bruder aus dem Knast zu retten, unterschreibt Jessy bei der Stasi. Als sie ihren schlenkernden Schwarm zwei Jahre später in Moskau wiedertrifft, wird sie schwanger. Sie zieht einen Sohn groß und - man ahnt es - er wird so ein cooler und lässiger Typ wie der Schlenkerschwarm. Er ist 23, als enthüllt wird, wer sein Vater ist.
Ost-Dramen können wohl nicht auskommen ohne Stasi-Konflikte, wobei sie beim Staatsfeind Lindenberg sogar nahe liegen. Konkret erscheint die Stasi aber als Haufen hirnloser Volltrottel, die versuchen, einen Udo-Doppelgänger zu finden. Darunter sind Szenen zum Schlapplachen, etwa beim Auftritt der „stillgelegten Primaballerina“ Barbara Saftig, die als Expertin Lindenbergs Bewegungen analysieren soll. Sie spricht sächsisch: „Sein Gang hat etwas Gefährlisches. Der Körpermacht, was er will, nur um von seinem dünnen Stimmschen abzulenken.“
Auch „Da wo einst die Leber war, ist heute eine Minibar“ mag ein viel zitierter Kalenderspruchsein, als Satz über Udo Lindenberg aber gewinnt er doch an Fahrt. Bei Mielke als Ministermit Wortfindungsstörungen wird auch viel gelacht. Mielke: „Was kann dieser Lindenberg eigentlich? Nüscht. Und im Nüscht können lassen wir uns nüscht vormachen.“
Freilich erlebt man die Stasi-Genossen nicht nur als witzige Gurkentruppe. Sie lassen auch Jessys Bruder sich würdelos bis auf die Unterhosenentkleiden und abführen. Sie boxen Jessy in den Bauch mit Baby, weil sie als IM nichtfunktioniert. Nicht, dass dabei besondere Dramatik aufkäme - nein. Es ist nur einfach alles drin in diesem Gemischtwarenladen. Der Zuschauer darf entscheiden, wo die ruppige Comedy-Vorstellung aufhört und der Ernst beginnt. Wie entspannend, als sich der zweite Teiler Inszenierung von Ulrich Waller nach dem Mauerfall mehr Udo Lindenberg und seinem subtileren Alltagshumor widmet. Da werden gelegentlich wirklich anrührende Momente aufgebaut.
Schon im Prolog war das gelungen - hinter Video-Bildern vom Mauerbau wird langsam dieser herrliche bühnenfüllende Hut sichtbar, drei Meter hoch, acht breit, wie schwebend, und es erklingt „Mädchen aus Ost-Berlin“. Was der Titel für den deutschen Osten bedeutete, kann nicht überschätzt werden.
Eine Zeile wie „Vielleicht geht's auch irgendwann mal ohne Nerverei'n. Da muss doch auf die Dauer was zu machen sein“ hat vielleicht nicht Rebellion auslösen können, aber doch innere Verzweiflung: So locker sah das Mauer-Ungetüm von der anderen Seite aus? Sollte man sich doch nicht einrichten im Mauer-Alltag?
Am Potsdamer Platz stapelt Udo Lindenberg nun einen weiteren Stein in sein Denkmal, das ein beinahe klassisches Musical geworden ist, nur nicht mit den Hits von Queen oder Abba, sondern eben mit denen von Lindenberg, mit „Andrea Dora“, „Sonderzug nach Pankow“ und „Hinterm Horizont“ und „Ich lieb' dich überhaupt nicht mehr“.
Kim Duddy hat wie immer druckvollkoordinierte Tanzszenen eingerichtet, Raimund Bauers Szenenbilder sind funktional und trotzdem überraschend, das 30-köpfige Ensemble spielt mit Leidenschaft, wobei ausgerechnet die Hauptdarsteller Serkan Kaya und Josephin Busch eher blass und glanzlos bleiben. Bei dem Udo-Darstellerfällt es umso mehr auf, weil beim Casting einer der Doppelgänger - Patrick Stamme -einen umwerfend perfekten Udo hinlegt.
Er wird höchstens vom Original getoppt. Das ließ es sich am Mittwoch nicht nehmen, zum Abschlusssein Jodeltalent in einem Medley zu entfalten und das Publikum zu stehenden Ovationen zu zwingen.
Udo Lindenberg kam gar nicht wieder runter von der Bühne. Fast sah es aus, als wolle er zur Premiere nicht zum letzten Mal ein Ständchen geben. Die Crew wird es ihm danken, solange Udo Lindenberg nicht Bühne und Leben verwebt und eines Tages anfängt, seinen Sohn zu suchen. (mz)