Kurt Hiller Kurt Hiller: Ich war nie Expressionist
Halle (Saale)/MZ. - Im lebendigen deutschen Literaturgedächtnis spielt der Schriftsteller und Publizist Kurt Hiller (1885-1972) kaum eine Rolle, im Osten ist die kollektive Erinnerung an ihn nahezu ausgelöscht. Letzteres hat auch politische Gründe: Man hat dem undogmatischen Sozialisten seinen 1951 in London verfassten Bericht "Rote Ritter. Erlebnisse mit deutschen Kommunisten" nie verziehen.
Ein von Erfahrungen und Reflexionen übervolles Buch, dem man noch heute viele Leser wünscht. Hiller, der nach Inhaftierungen in verschiedenen deutschen Konzentrationslagern über Prag schließlich 1938 nach England floh, berichtet darin seine Erlebnisse mit der Arroganz prominenter organisierter Kommunisten im Exil, Personen wie dem Verleger Wieland Herzfelde und dem offenbar drittrangigen Journalisten Hermann Budzislawski, dem Prager Totengräber der klassischen "Weltbühne". Detailbesessen und leidenschaftlich macht Hiller sichtbar, wie Gestalten dieses charakterlichen Kleinkalibers jene Exil-Kollegen ausgrenzten, beschädigten und verrieten, die nicht in deren geistig-soziales Profil passten.
Aber Kurt Hiller passte nie, weder von links noch rechts: Pazifist, Sozialist, Jude, Homosexueller. Vor allem aber: Der in Berlin geborene Jurist war ein Intellektueller - und zwar einer, der einen aristokratischen Begriff von allem Geistigen hatte. Sich selbst bezeichnete Hiller als "Logokrat", der aber stets auf das Humane zielte. Er verachtete den Mainstream in jeder Hinsicht, die zu Verhaltensregeln geronnene Denkfaulheit, liebte die große und zielgenaue Polemik. Hillers literarisches Schaffen ist Zeitwerk: Aufsätze, Aphorismen, Erinnerungen, darunter die großartigen Zeitgenossenporträts "Köpfe und Tröpfe" (1950) sowie die Autobiografie "Leben gegen die Zeit", unterteilt in die Bände "Logos" (1969) und "Eros" (1973).
Nun ist ein neues und wie so oft bei Hiller rundum erstaunliches Buch dieser Werkgruppe hinzuzufügen: Unter dem Titel "Ich war nie Expressionist" veröffentlicht der Wallstein Verlag den Briefwechsel der Jahre von 1959 bis 1968 zwischen dem 1955 nach Deutschland zurückgekehrten Wahl-Hamburger Hiller und dem jungen Bibliothekar Paul Raabe, Jahrgang 1927. Von 1958 bis 1968 leitete Raabe die Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, wo er 1960 die Ausstellung "Expressionismus. Literatur und Kunst. 1910-1923" kuratierte. Vieles, das wir heute über die seinerzeit fast vergessene literarische Bewegung wissen, rührt von dieser Schau her.
In der füllte Hiller keine geringe Rolle: Von 1910 war er der Netzwerker verschiedenster Intellektuellen-Gruppen, denen heute das "Expressionismus"-Etikett aufgepappt wird; ja recht eigentlich ist Hiller der Stifter des literarischen Schlagwortes "Expressionismus". Er sammelte Dichter wie Georg Heym und Jakob van Hoddis um sich, hielt das Sittlich-Politische gegen das "Dadaistische" hoch, das er verachtete. Er wirkte als Vordenker des literarischen Expressionismus, eine Zuständigkeit, die Hiller im Nachhinein unsichtbar machen will, weil ihm viele der als Expressionisten etikettierten Autoren geistig als wenig zuverlässig erscheinen. Hiller selbst ist ein Mann des "Aktivismus", er begreift sich als politischer Geist- und nicht als ein schöngeistiger Ausdruckskünstler. Paul Raabe weiß, dass er den begnadeten Polemiker immer auch laufen lassen muss, bevor er an einzelne Erinnerungen dieses Zeitzeugen herankommt.
Und Hiller hat viel und großartig zu schimpfen, immer wieder auf die Nachkriegszeit mit ihrer "schlammigen, gegenaufklärerisch, aftermetaphyselnd-reaktionären, statt auf Kant auf Herrn Hegel fußenden Mentalität der nichtnazistischen Helfer Hitlers". Den Begriff des literarischen Expressionismus lehnt er ab. Er selbst sei "nie auch nur den Bruchteil einer
Sekunde lang Expressionist" gewesen, teilt er 1960 dem lieben "Doktor PauRaa" mit. Den Begriff "Expressionismus" bezeichnet Hiller als einen "Wurstdarm", in den seit jeher "unterschiedlichste Bestandteile gestopft worden sind", darunter "verschimmelter Irrationalismus, faulster Dadaismus, sogar (siehe Johst) Nazismus". Aber Raabe lässt nicht locker, wendet ein, hakt nach. Bis er 1966 den von seinem Briefpartner verfassten Aufsatz "Die Jüngst-Berliner" von 1911 vorweisen kann, in dem Hiller schreibt: "Wir sind Expressionisten. Es kommt uns wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an".
Ein echter Fund: Der erste nachweisbare Gebrauch des Expressionisten-Begriffes. Hiller gibt sich Paul Raabe gegenüber geschlagen: "Ich werde ja nun zugeben müssen, dass jener Irgendwer, der die Vokabel ,Expressionismus' von der Malerei als Erster auf die Dichtung übertrug, ich war. Ich schäme mich." Schon beginnt Hiller, Recherche-Fehler nachzuweisen, um dann doch versöhnlich zu enden: "Aber sonst finde ich Ihre Arbeit, wie immer, fesselnd. Wächst Ihnen der ,Expressionismus' denn nicht nachgerade zum Hals heraus?"
Der von Ricarda Dick vorbildlich edierte Briefwechsel bietet Hillers "Die Jüngst-Berliner" als Reprint im Anhang. Darin sind Sätze zu finden wie: "Wir behaupten, daß der Potsdamerplatz uns schlechthin mit gleich starker Innigkeit zu erfüllen mag, wie das Dörfli im Tal den Herrn Hesse." Und: "Wenn ich bedenke, daß auf unserer Gegenseite der Asket, der Snob und der Gelehrte stehen, so scheint mir, wir kämpften (in einer etwas schwärmerischen Art) gegen die Lüge." Ein selten scharfer und kühler Geist spricht aus diesen Zeilen, den wieder sichtbar gemacht zu haben ein unterhaltsames Verdienst ist.