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Kraftwerk Vockerode Kraftwerk Vockerode: Der Marquis tanzt im Moloch

Von Andreas Hillger 05.06.2006, 18:27

Vockerode/MZ. - Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade wählt diesen Weg. Und die Gesellschaft wird nicht eher ruhen, bis sie ihn wieder in ihrer Mitte verhaftet hat.

Mensch und Material

Mit dieser Höllenfahrt beginnt im stillgelegten Kraftwerk Vockerode ein Spektakel, das dem Choreografen und Tänzer Gregor Seyffert endgültig seine Ausnahmestellung im deutschen Kulturbetrieb sichert. Sein "Marquis de Sade" ist ein Gesamtkunstwerk, das nur an diesem Ort und mit diesem Protagonisten denkbar scheint - blasphemisch und poetisch, gewaltig in der Anlage und brillant in den Details. Es ist eine Materialschlacht, die der Mensch gewinnt - und es ist eine faszinierende Exkursion in das Schattenreich seiner Seele.

Dabei muss man zunächst den logistischen Aufwand bewundern, mit dem sich Seyfferts Compagnie den Moloch als Schauplatz angeeignet hat. Über Gitterroste und steile Stufen steigt man in atemraubende Höhen, ehe der Weg auf die vertikale Tribüne des ersten Akts hinabführt. Später findet man sich in einem Amphitheater, dessen umgittertes Zentrum das Schloss des Marquis bildet. Und am Ende wird man in einer horizontalen Landschaft platziert, in der sich der Lebensweg des sexuellen Freidenkers zu seinem Anfang neigt.

Dieser Wechsel der Perspektiven hat bereits dramaturgische Funktion - und entspricht den unterschiedlichen Stilen und Temperaturen, die den Wanderer an den Stationen erwarten. Während Seyffert den ersten Akt als Tour de Force durch das Irrenhaus der französischen Geschichte nutzt, in der Louis XV., Robespierre und Napoleon nacheinander auf ihren prominenten Gefangenen treffen, wird das Zentrum durch eine große, intime Ballett-Szene behauptet. Hier begegnen dem Zuschauer neben dem dunklen und dem lichten Marquis auch seine beiden Roman-Heldinnen Juliette und Justine, die Leiden der Tugend und die Wonnen des Lasters tanzen mit dem Autor.

Und schließlich wird die Sehnsucht nach dem Mutterschoß zum Ursprung aller Phantasien - und die Unmöglichkeit der Rückkehr zum Anlass für schrankenlose Wut. In diesem dritten Akt, der die konkreten historischen Gestalten noch einmal als allegorische Figuren beschwört und den Marquis in eine multiple Persönlichkeit verwandelt, erfüllt sich Seyfferts Konzept. Und hier verneigt er sich nicht nur vor Vorbildern wie Pier Paolo Pasolini ("Die 120 Tage von Sodom"), sondern auch kurz vor seinem Publikum. Dann aber muss er schon wieder weiter - denn am Ende des einen Durchgangs wartet bereits der Beginn des nächsten, dem Verschwinden im Feuer folgt abermals die Erscheinung aus der Luft.

Dies ist die unglaubliche Leistung des Solisten, der jeden Mitstreiter aufmerksam und virtuos in Szene setzt: Seyffert selbst ist das Bindeglied, er tanzt in drei Runden pro Abend je dreimal. Und erst durch diesen sensationellen Marathon-Sprint wird die Passionsgeschichte des Lästerers plausibel: Der athletische Draufgänger ist dem monomanischen Triebtäter ebenbürtig.

Das Gift des Geistes

Und wie dieser findet er in Kunst ein Ventil für die giftigen Dämpfe des Geistes. Doch wo de Sade am Anfang der Aufklärung noch jedes Tabu brechen wollte, weiß Seyffert am Ende dieses Prozesses von der ermüdenden Wirkung des bloßgelegten Fleischs. Seine Form der Provokation ist subtiler, sie resultiert aus der Kombination von Liturgie und Erotik oder aus der Obszönität orthopädischer Kostümteile an gesunden Körpern. Und damit stiftet das Spektakel jene Erkenntnis, die bei seinem Helden pornografische Kolportage blieb.

Letzte Vorstellungen: Diensta und Mittwoch, je 18, 19, 20 Uhr