Käthe Reichel Käthe Reichel: Es war einmal und hört nie auf
Halle (Saale)/MZ. - Käthe Reichel ist ein Kind des Berliner Hinterhofes. Keines ersten, keines zweiten, sondern eines dritten Hinterhofes. Was heißt: ganz arm dran. In einem dritten Hinterhof in Berlin-Prenzlauer Berg wächst die uneheliche Tochter einer unehelich geborenen Mutter auf. Jeweils zur Dämmerstunde sitzt das Mädchen vom Jahrgang 1926 in der Küche, um seiner Mutter zu lauschen, die über sich und ihre Herkunft spricht. So eindrücklich, dass die Erinnerungen der Mutter die der Tochter werden.
"Durch ihre Worte", schreibt Käthe Reichel heute, "verwandelte sich scheinbare Genügsamkeit in Lebenshunger. Das hat sie an mich weitergegeben." Aber auch das ist notiert: "Immer wenn ich mich an die längst vergangenen Dämmerstunden mit meiner Mutter erinnere, fühle ich, wie mir das Vergangene den Hals umdrehen könnte."
Warum das so ist, begreift, wer Reichels Erinnerungsbuch "Dämmerstunde. Erzähltes aus der Kindheit" zur Hand nimmt. Ein Buch, das über drei Generationen zurückführt in die Familiengeschichte der Erzählerin. Die also ist die Künstlerin Käthe Reichel: als Schauspielerin am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater eine der bedeutendsten deutschen Bühnenfrauen der Nachkriegsjahrzehnte, unvergessen auch in ihren Filmrollen ("Levins Mühle", "Die Verlobte", beide 1980). Heute lebt die 85-Jährige in Buckow bei Berlin, in einem Sommerhaus, das ihr 1956 Bertolt Brecht hinterließ, zu dessen letzten Geliebten die Tochter einer Arbeiterin gehörte. Einer Arbeiterin, die eine Bauerstochter war. In deren Landschaft führt das Buch zuerst: "Sächsisch-Sibirien" nennt man die Gegend, "nicht nur wegen des hohen Schnees im Winter, in dem man steckenbleiben konnte".
Die Reichel zeigt den Landalltag vor und im Ersten Weltkrieg, der für die Frauen der Familie vor allem Arbeit, Arbeit, Arbeit war, aber niemals Anlass zur Resignation! In den besten Partien des Buches gelingt der Erzählerin das: eine Prosa, fest und schön von Erfahrung. Man sieht den Hof der Urgroßeltern, das Dorf, die Politik, die Jahreszeiten drumherum. Immer sind es die Frauen, die mit Krisen am besten umgehen können. Die tatsächlich aushalten. Auch Reichels Mutter, die ausgebeutet, bestohlen und von einem Polizisten, der ihr doch helfen sollte, vergewaltigt wird. Reichels Schilderungen ihrer Kindheit in der Weimarer Republik sind - im besten Sinn! - lesebuchtauglich. Das Betteln zum Beispiel gilt in der bettelarmen Familie als ehrlos, anders als das Stehlen, das die Mutter gestattet: Mundraub ist erlaubt.
Das Elend des Mädchens Käthe Reichel formt den Weltanschauungsgrund der alten Frau. Deren Begriffe von Würde und gesellschaftlicher Teilhabe haben sich in der Not der Kindheit gebildet, vielleicht auch so sehr verengt, dass die Reichel heute aufgeregt predigt und appelliert, wo eine distanzierte Analyse hilfreich wäre. Aber Käthe Reichel ist keine Frau der Distanz, sondern der direkten, affekthaften Ansprache. Insofern gibt sie ihren Erinnerungen Befunde zur Politik bei - gegen den Jugoslawien-, Irak- und Afghanistan-Krieg. Man mag das neben der Erinnerungsprosa als störend empfinden, aber es ist auch folgerichtig. Im Zuge einer gefühlvollen, aber niemals sentimentalen Biografie, die verkündet: "Nichts wird wieder gut".
Käthe Reichel: Dämmerstunde. Erzähltes aus der Kindheit Verlag Neues Leben, 192 Seiten, 12,95 Euro.